Wallander 07 - Mittsommermord
eine von Erschöpfung geprägte Präsenz. Wallander setzte sich und sagte offen heraus, wie es sich verhielt. Er hatte unmittelbar neben dem Täter gestanden. Aber er hatte ihn entwischen lassen. Ruhig und sachlich lotste er sie durch alles, was geschehen war. Angefangen bei dem Moment, als er Birch und Maria Hjortberg getroffen hatte, über den |466| unerwarteten Anruf von Lone Kjær, die Überfahrt nach Kopenhagen, bis hin zu der Bar in einer der Straßen hinter dem Hauptbahnhof und zu Louise, die dort vor ihrem Weinglas gehockt und sich mit einem Lächeln bereit erklärt hatte, mit ihm zu sprechen. Aber zuerst wollte sie also auf die Toilette gehen.
»Da hat sie die Perücke abgenommen«, erklärte er. »Übrigens genau die Perücke, die sie auch auf dem Bild trägt. Sie hat sich abgeschminkt. Weil sie, oder richtiger gesagt er, ein umsichtig planender Mensch ist, hatte er wahrscheinlich mit dem Risiko gerechnet, entdeckt zu werden. Vermutlich hatte er eine Reinigungsmilch bei sich, mit der die Schminke leichter abging.«
Als er die Bar verließ, hatte Wallander ihn nicht gesehen, weil er dasaß und auf eine Frau wartete.
»Und die Kleider?« fragte Ann-Britt.
»Sie trug eine Art Hosenanzug«, erwiderte Wallander. »Flache Schuhe. Bei genauem Hinsehen hätte man vielleicht vermuten können, daß sie ein Mann war. Aber nicht an der Bar.«
Ann-Britts Frage war die einzige.
»In meinem Kopf besteht kein Zweifel«, sagte Wallander, als genug Zeit zum Nachdenken vergangen war. »Er ist der Mann, den wir suchen. Warum macht er sich sonst aus dem Staub? Warum flieht er?«
»Hast du nicht an die Möglichkeit gedacht, daß er heute früh auf demselben Boot sein könnte wie du?« fragte Hansson.
»Ich habe daran gedacht, aber viel zu spät.«
Sie müßten mir Vorwürfe machen, dachte er. Für dies und für manches andere in dieser Ermittlung. Eigentlich hätte ich schon beim erstenmal, als ich das Foto in der Hand hielt, sehen müssen, daß sie eine Perücke trägt. Hätte ich damals erkannt, daß sie verkleidet ist, wäre einiges anders gelaufen. Dann hätten wir nach einer Louise gesucht, die eigentlich ein Mann ist. Alle anderen Spuren hätten warten können. Aber ich habe es nicht gemerkt. Ich war nicht in der Lage, mir klarzumachen, was ich, genaugenommen, schon ganz am Anfang entdeckt hatte.
Wallander goß sich ein Glas Mineralwasser ein, bevor er fortfuhr.
»Ich habe einen Brief von Mats Ekholm bekommen. Ihr erinnert |467| euch, der Psychologe, der uns vor ein paar Jahren geholfen hat, den Jungen zu fassen, der seine Opfer skalpierte. Er hat sich Gedanken gemacht. Und er betont die Gefahr, daß dieser Mann wieder zuschlagen könnte. Weil wir nicht wissen, wann oder wo, müssen wir davon ausgehen, daß es jeden Augenblick geschehen kann. Das heißt, wir haben keine Zeit zu verlieren.«
»Kommt der Perückenmann in der Ermittlung vor?« fragte einer der Polizisten aus Malmö.
»Das wissen wir nicht. Aber das ist eine der wichtigsten Fragen, die wir uns vornehmen müssen. Wir müssen noch einmal zurückschauen und das gesamte Material von vorne bis hinten sichten. Vielleicht finden wir ihn.«
»Das Foto«, sagte Martinsson. »Auf einem Bildschirm kann man die Perücke wegnehmen und sehen, was für ein Mann darunter hervorkommt.«
»Was das allerwichtigste ist«, stimmte Wallander zu. »Und damit fangen wir an, sobald wir diesen Raum verlassen. Mit einer Perücke und ein bißchen Schminke kann man ein Gesicht verändern. Aber unkenntlich machen kann man es nicht.«
Wallander spürte, daß sich plötzlich neue Energie im Raum verbreitete. Er wollte die Besprechung nicht unnötig in die Länge ziehen. Lisa Holgersson merkte, daß er zum Ende kommen wollte, und hob die Hand.
»Ich möchte noch einmal an das erinnern, was alle natürlich wissen. Morgen um zwei ist Svedbergs Beerdigung. Mit Hinblick auf die gegenwärtige Ermittlungssituation verschieben wir die Gedenkstunde, die wir danach hier im Präsidium abhalten wollten, bis auf weiteres.«
Keiner hatte noch etwas zu sagen. Jeder hatte es eilig. Niemand mußte fragen, was er tun sollte.
Wallander war zu seinem Zimmer gegangen, um seine Jacke zu holen. Er mußte einen Besuch machen, der nicht warten konnte. Er wollte einen Gedanken, eine Spur verfolgen, die sich wahrscheinlich als vollkommen irrelevant erweisen würden. Aber er würde es sich selbst nie verzeihen, wenn die Spur trotz allem die richtige wäre und er wäre ihr nicht nachgegangen. Es
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