Wallander 07 - Mittsommermord
jederzeit leuchten zu können. Daß er es vorzieht, Menschen zu töten, die irgendwie verkleidet sind, kann auf verschiedene Weise interpretiert werden. Ich halte es für das Wahrscheinlichste, daß er sich damit von der Verantwortung für seine Taten befreien will. Er tötet Rollenfiguren, nicht die Menschen, die sie eigentlich sind. Doch ich kann mich auch irren. Aber ich frage mich, ob nicht noch ein weiteres Motiv hinzukommt. Ein Motiv, das ich nicht zu erkennen vermag. Etwas, was diese Menschen auf andere Art verbindet als die Tatsache, daß sie zufällig verkleidet waren, als feiernde Menschen im 18. Jahrhundert oder als Brautleute. Was die Charakteristik des Täters betrifft, komme ich zu den gleichen Schlußfolgerungen, wie Du sie, soweit ich es verstanden habe, gezogen hast. Daß es sich um einen Mann handelt,
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der Einsicht in und Zugang zu Informationen hat. Er geht keine Risiken ein. Er kann sehr wohl ein sogenanntes gewöhnliches Leben führen. Vermutlich lebt er in vollkommen undramatischen Verhältnissen. Er kann eine Arbeit haben, die er gewissenhaft erledigt. Er kann eine Familie haben, Freunde, alles, was die Normalität ausmacht. Wahrscheinlich hat er bisher keine Verbrechen begangen. Zumindest keine, die Gewaltanwendung beinhalteten. Doch dann ist etwas geschehen. Ein plötzlicher Vulkanausbruch in seinem Inneren, den niemand, am wenigsten er selbst, vorhersehen konnte.
Wallander ließ den Brief sinken. Ekholms verschiedene Telefonnummern standen auf dem Briefbogen. Er wählte die seines Arbeitsplatzes. Jemand teilte ihm mit, daß Ekholm noch nicht erschienen sei. Wallander hinterließ seinen Namen und seine Telefonnummer und bat um Rückruf.
Es war drei Minuten vor acht.
Wallander dachte an das, was Ekholm nicht wußte. Daß sich auch der Täter verkleidete, maskierte. Wie seine Opfer.
Wenn er es denn war. Aber Wallander sah keine Möglichkeit mehr, das Bild in seinem Kopf auszulöschen.
Es war der Täter, den er am Abend zuvor in Kopenhagen getroffen hatte.
Er dachte an Isa Edengren. Zusammengekauert in der Grotte. Ihn schauderte.
Er stand auf. Im Sitzungszimmer warteten sicher schon seine Kollegen. Er würde erzählen, was am Abend zuvor geschehen war. Der Täter hatte sich gezeigt, war auf die Toilette gegangen und verschwunden.
Die Frau, die sich in Luft auflöste. Und in Form von Nebel als Mann zurückkehrte. Es gab keine Louise mehr. Es gab nur noch einen unbekannten Mann, der die Perücke abgenommen hatte und anschließend spurlos verschwunden war.
Wallander hielt in der Tür seines Büros inne. Ekholm hatte noch etwas erwähnt. Die Möglichkeit, daß es noch ein Motiv gab, das die Opfer miteinander verband, abgesehen davon, daß sie maskiert waren.
Intuitiv ahnte Wallander, daß Ekholm recht hatte. Die Frage |465| war lediglich, wie sie diesen Berührungspunkt identifizieren konnten.
Was sage ich jetzt? überlegte Wallander. Wie finde ich in diesem unübersichtlichen Terrain die richtige Spur? Die Zeit ist knapp. Und das bedeutet, nicht alle Gedanken können gedacht, nicht alle Spuren verfolgt, nicht alle Vorbehalte berücksichtigt werden. Aber wie weiß man, welcher Gedanke der richtige ist?
Wallander ging auf die Toilette, er hatte Durst und Druck auf der Blase.
Er starrte das Spiegelbild an, das ihm entgegenblickte. Aufgequollen und bleich, mit schweren Tränensäcken unter den Augen. Zum erstenmal in seinem Leben bereitete ihm der Anblick seines Spiegelbilds Übelkeit.
Ich muß diesen Kerl fassen, dachte er. Schon um mich krankschreiben lassen zu können und mich um meine Gesundheit zu kümmern.
Dann trank er Wasser aus einem Plastikbecher. Erneut stellte er sich die Frage: Wie weiß man, welcher Gedanke der richtige ist? Es ist, als spiele man mit seinen intuitiven Impulsen Roulette. Schwarz führt in eine Sackgasse, Rot auf den richtigen Weg. Die Zeit ist ein schnell verbrauchtes Kapital.
Randzonen existieren nicht. Unabdingbar ist das, was alle verachten und abstreiten, auf das jedoch alle hoffen: das Glück. Daß der Gedanke, den man wählt, sich als der richtige erweist, daß die Spur, der man folgt, nicht auf direktem Weg in ein unerwartetes Vakuum führt.
Es war sieben Minuten nach acht. Wallander verließ die Toilette.
Alle waren erschienen. Thurnberg befingerte seinen perfekten Schlipsknoten, Lisa Holgersson lächelte ihr unruhiges, flackerndes Lächeln. Die anderen, seine Kollegen, brachten ihm das einzige entgegen, zu dem sie noch fähig waren,
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