Wallander 09 - Der Feind im Schatten
zu.«
Wallander furchte die Stirn. Hatte Hans nicht genau das Gegenteil gesagt? Dass seine Mutter nie über Politik sprach, höchstens in knappen Floskeln mit ihrem Mann? Plötzlich hatte er doch Lust, George Talboth in Berlin zu besuchen. Nach dem Zusammenbruch der DDR war er nicht dort gewesen. Dagegen hatte er Mitte der 80er Jahre zweimal zusammen mit Linda Ostberlin besucht, in der Zeit, als sie vom Theater besessen war und unbedingt das Berliner Ensemble sehen wollte. Er erinnerte sich mit Unbehagen daran, wie die DDR-Grenzbeamten mitten in der Nacht die Schlafwagentür aufgerissen hatten und seinen Pass zu sehen verlangten. Bei beiden Besuchen hatten sie in einem Hotel am Alexanderplatz gewohnt. Wallander hatte sich dort immer unwohl gefühlt.
»Ich könnte mir vorstellen, dich zu besuchen«, sagte er. »Ich kann den Wagen nehmen.«
»Du wohnst bei mir«, sagte George Talboth. »Ich habe eine Wohnung in Schöneberg. Wann kommst du?«
»Wann passt es dir?«
»Ich bin Witwer. Es passt mir, wenn es dir passt.«
»Übermorgen?«
»Ich gebe dir meine Telefonnummer. Ruf mich an, wenn du kurz vor Berlin bist, dann lotse ich dich durch die Stadt. Isst du Fisch oder Fleisch?«
»Beides.«
»Wein?«
»Rot.«
»Dann weiß ich alles, was ich wissen muss. Hast du etwas zu schreiben?«
Wallander notierte sich die Telefonnummer auf dem Rand von Håkan von Enkes Brief.
»Du bist willkommen«, sagte George Talboth. »Habe ich richtig verstanden, dass deine Tochter mit dem jungen Hans von Enke verheiratet ist?«
»Das ist nicht ganz richtig. Sie haben eine Tochter, Klara. Aber verheiratet sind sie noch nicht.«
»Bring ein Foto von deinem Enkelkind mit.«
Wallander legte auf. Bilder von Klara hatte er an verschiedenen Stellen im Haus aufgehängt. Er nahm zwei Fotos, die in der Küche an die Wand gepinnt waren, und legte sie auf den Tisch neben seinen Pass. Während er frühstückte, studierte er seinen Atlas, um abzuschätzen, wie weit es von der Fährstation in Sassnitz nach Berlin war. Durch einen Anruf bei der Reederei in Trelleborg erfuhr er die Abfahrtszeiten, schrieb sie auf und freute sich auf die bevorstehende Reise. An diesen Sommer werde ich mich wegen all der Autofahrten erinnern, dachte er. Genau wie damals, als Linda klein war und wir in den Ferien nach Dänemark fuhren, aber auch nach Gotland und einmal sogar bis nach Hammerfest in Nordnorwegen.
Am 23. Juli setzte er sich in den Wagen und nahm die Küstenstraße nach Trelleborg, zur Fähre und zum Festland. Linda hatte er nur gesagt, er wolle sich ein paar Urlaubstage in Berlin gönnen. Sie hatte keine misstrauischen Fragen gestellt, sondern nur gesagt, dass sie ihn beneide. Aus dem Fernsehen wusste er, dass Berlin und Zentraleuropa gerade eine Hitzewelle erlebten.
Er beschloss, nicht direkt nach Berlin zu fahren. Irgendwo würde er die Autobahn verlassen und in einem kleinen Hotel übernachten. Er hatte es nicht eilig.
Er aß auf der Fähre und teilte den Tisch mit einem redseligen Lastwagenfahrer, der ihm erklärte, er sei mit mehreren Tonnen Hundefutter auf dem Weg nach Dresden.
»Warum sollen deutsche Hunde schwedisches Futter fressen?«, überlegte Wallander.
»Das kann man sich fragen. Aber ist es nicht das, was den freien Markt ausmacht?«
Wallander ging an Deck. Er verstand, warum viele Menschen sich dafür entschieden, an Bord von Schiffen zu arbeiten. Wie Håkan von Enke, auch wenn der lange Jahre seines Lebens auf See unter der Wasseroberfläche verbracht hatte. Warum wurde man U-Boot-Kapitän?, dachte er. Ebenso gibt es bestimmt viele Menschen, die sich fragen, warum man Polizist wird. Mein eigener Vater zum Beispiel.
Hinter Sassnitz hielt er auf einem Parkplatz, wechselte das Hemd und zog kurze Hosen und Sandalen an. Einen kurzen Augenblick fühlte er sich glücklich bei dem Gedanken, dass er anhalten konnte, wo er wollte, wohnen konnte, wo er wollte, essen konnte, wo er wollte. So sieht die Freiheit aus, dachte er und grinste über seinen pathetischen Gedanken. Ein älterer Polizeibeamter befindet sich auf der Flucht, er hat sich selbst freigelassen.
Er fuhr bis Oranienburg kurz vor Berlin, bevor er beschloss zu übernachten. Er suchte eine Weile nach einem passenden Hotel und entschied sich für den Kronhof amStadtrand. Der Mann an der Rezeption war ein älterer Herr mit üppigem Schnauzbart. Als er sah, dass Wallander Schwede war, erzählte er, schon oft daran gedacht zu haben, irgendwo in den schwedischen Wäldern ein
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