Wallander 09 - Der Feind im Schatten
Hälfte des Plunderstücks. »Reden wir von dem Verhältnis deiner Eltern zueinander«, sagte er dann. »Wie war es?«
»Es war gut.«
»Sie haben nie Krach gehabt oder sich gestritten?«
»Nein. Ich glaube, dass sie sich wirklich liebten. Später habe ich gedacht, dass ich als Kind nie fürchten musste, sie würden sich eines Tages scheiden lassen. Der Gedanke existierte einfach nicht.«
»Aber Menschen leben doch nicht konfliktfrei?«
»Sie doch. Es sei denn, sie hätten gestritten, wenn ich schlief und nichts merkte. Aber das kann ich kaum glauben.«
Wallander hatte keine Fragen mehr. Aber er war noch nicht bereit, aufzugeben. »Fällt dir noch etwas ein, was du mir über deine Mutter sagen kannst? Sie war freundlich, und sie war geheimnisvoll, vielleicht rätselhaft, das wissenwir jetzt. Aber, ehrlich gesagt, du weißt erstaunlich wenig über deine Mutter.«
»Das ist mir auch klargeworden«, sagte Hans mit einer, wie Wallander glaubte, schmerzlichen Aufrichtigkeit. »Es gab fast nie Momente der tiefen Vertrautheit zwischen uns. Sie hat eine gewisse Distanz zu mir nie verloren. Wenn ich mir wehtat, tröstete sie mich natürlich. Aber jetzt im Nachhinein sehe ich, dass es für sie fast lästig war.«
»Gab es einen anderen Mann in ihrem Leben?«
Wallander hatte die Frage nicht vorbereitet. Aber als sie jetzt ausgesprochen war, erschien sie ihm völlig logisch.
»Nein. Ich glaube, dass es zwischen meinen Eltern keine Untreue gab. Von keiner Seite.«
»Und bevor sie geheiratet haben? Was weißt du über die Zeit?«
»Ich habe das Gefühl, dass sie, weil sie sich so früh begegnet sind, nie eine andere Beziehung hatten. Jedenfalls nicht ernsthaft. Aber da kann ich natürlich nicht sicher sein.«
Wallander steckte seinen Notizblock in die Jackentasche und stand auf. Er hatte kein einziges Wort notiert. Es gab nichts, was er hätte aufschreiben können. Er war genauso klug wie vorher.
Hans blieb sitzen. »Mein Vater hat also angerufen?«, sagte er. »Er lebt, will sich aber nicht zeigen?«
Wallander setzte sich wieder. Der Gitarrenspieler unter seinen Füßen war jetzt fort. »Dass er es war, steht außer Zweifel. Es war kein anderer, der seine Stimme imitierte. Er sagte, es gehe ihm gut. Für sein Verhalten hat er keine Erklärung gegeben. Er wollte euch nur wissen lassen, dass er lebt.«
»Und er hat nichts darüber gesagt, wo er war?«
»Nein.«
»Was hattest du für ein Gefühl? War er weit entfernt? Hat er von einem Festnetzanschluss oder von einem Handy angerufen?«
»Das kann ich nicht sagen.«
»Weil du es nicht willst oder nicht kannst?«
»Weil ich es nicht kann.«
Wallander stand wieder auf. Sie verließen den verglasten Raum. Als sie am Sitzungszimmer vorüberkamen, waren die Türen geschlossen, aber die lautstarke Diskussion dahinter ging weiter. Sie trennten sich an der Anmeldung.
»Konnte ich dir helfen?«, fragte Hans.
»Du warst ehrlich«, erwiderte Wallander. »Mehr kann ich nicht verlangen.«
»Eine diplomatische Antwort. Ich konnte dir also nicht geben, was du erhofft hast.«
Wallander hob resigniert die Hände. Die Glastür ging auf, er winkte noch einmal zurück. Der Aufzug brachte ihn lautlos hinunter zum Eingang. Er hatte seinen Wagen in einer Seitenstraße von Kongens Nytorv geparkt. Weil es sehr warm war, zog er die Jacke aus und knöpfte das Hemd auf.
Plötzlich hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden. Er drehte sich um. Die Straße war voller Menschen. Er entdeckte kein ihm bekanntes Gesicht. Nach hundert Metern blieb er vor einem Schaufenster stehen und betrachtete eine Auswahl exklusiver Damenschuhe. Er schielte zurück in die Richtung, aus der er gekommen war. Ein Mann stand da und sah auf seine Armbanduhr. Dann legte er sich den Mantel vom rechten auf den linken Arm. Wallander meinte, ihn schon gesehen zu haben, als er sich zum ersten Mal umgedreht hatte. Er richtete den Blick wieder auf die Schaufensterauslage. Der Mann ging hinter ihm vorbei. Davon hatte Rydberg oft gesprochen. Man brauchte nicht ständig hinter der Person zu bleiben, die man beschattete. Ebenso gut konnte man sich vor ihr befinden . Wallander wandte sich vom Schaufenster ab und zählte hundert Schritte. Dann blieb er stehen und sah sich um. Jetzt fiel ihm niemand auf. Der Mann mit dem Mantel über dem Arm war verschwunden.Als Wallander sein Auto erreichte, sah er sich zum letzten Mal um. Die Menschen, die kamen und gingen, waren ihm alle unbekannt. Wallander schüttelte den Kopf. Er
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