Wallander 09 - Der Feind im Schatten
Ruhe!«
Und dann, als er in der Tür stand: »Ich habe fünf Kronen Trinkgeld bekommen, weil ich rechtzeitig mit den Blumen für Elander da war.«
» Erlander . Lern mal, wie die Leute heißen.«
Und genau hier, als hätte die Erinnerung ihm eine Tür geöffnet, begann Wallander zu ahnen, dass er einen vollkommen falschen Weg eingeschlagen hatte. Er war getäuschtworden, und er hatte sich täuschen lassen. Er war den Spuren seiner Vorurteile gefolgt – statt denen der Wirklichkeit. Er saß reglos am Schreibtisch, die Hände gefaltet, und verknüpfte seine Gedanken zu einer neuen und unerwarteten Erklärung des Geschehens. Es war so atemberaubend, dass er sich zunächst weigerte zu glauben, dass er recht haben könnte. Das Einzige, was er mit Sicherheit sagen konnte, war, dass sein Instinkt ihn immerhin gewarnt hatte. Er hatte tatsächlich etwas übersehen. Er hatte Wahrheit und Lüge vermischt, hatte Ursache und Wirkung verwechselt – und umgekehrt.
Er ging auf die Toilette und zog das Hemd aus, weil er schweißgebadet war. Nachdem er sich gewaschen hatte, ging er in den Keller und holte ein frisches Hemd aus seinem Spind. Er dachte zerstreut daran, dass Linda es ihm vor einigen Jahren zum Geburtstag geschenkt hatte.
Als er wieder in seinem Zimmer war, suchte er in seinen Papieren das Foto, das Asta Hagberg ihm kopiert hatte, das Bild von Oberst Stig Wennerström, der sich in Washington mit dem jungen Håkan von Enke unterhielt. Er legte das Bild vor sich hin und betrachtete die Gesichter der beiden Männer. Wennerström mit seinem kühlen Lächeln, ein Martiniglas in der Hand, vor ihm von Enke, ernsthaft zuhörend, was Wennerström ihm zu sagen hatte.
In Gedanken stellte Wallander seine Legosteine wieder auf. Alle waren da, Louise und Håkan von Enke, Hans, Signe in ihrem Bett, Sten Nordlander, Herman Eber, der Freund Steven in Amerika, George Talboth in Berlin. Er stellte auch Fanny Klarström dazu und ganz am Schluss einen Stein, von dem er nicht wusste, wen er darstellte. Langsam nahm er dann im Kopf Stein um Stein fort, bis nur noch zwei übrig waren, Louise und Håkan. Er ließ den Stift los, den er in der Hand hielt. Es war Louise, die umfiel. So hatte sie ihr Leben beendet, irgendwo auf Värmdö umgestoßen. Aber Håkan, ihr Mann, stand immer noch.
Wallander schrieb seine Gedanken nieder. Dann steckte er das Foto aus Washington in die Jackentasche und verließ das Präsidium. Diesmal ging er durch den Haupteingang hinaus, grüßte das Mädchen in der äußeren Anmeldung, wechselte einige Worte mit ein paar Verkehrspolizisten, die gerade hereinkamen, und ging zur Stadt hinunter. Wer ihn beobachtet hätte, würde sich vermutlich gefragt haben, warum er so ruckhaft ging, mal schnell, dann wieder langsam, mit einer Hand gestikulierend, als unterhielte er sich mit jemandem und müsste das Gesagte durch Gesten verstärken.
Er blieb beim Imbissstand vor dem Krankenhaus stehen und war lange unschlüssig, was er nehmen sollte. Schließlich ging er weiter, ohne etwas gegessen zu haben.
Aber unentwegt kreisten die immergleichen Gedanken in seinem Kopf. Konnte das, was er jetzt vor sich sah, wirklich stimmen? Konnte er das Geschehene so völlig falsch aufgefasst haben?
Er irrte in der Stadt umher, bis er schließlich auf die Pier des Kleinboothafens hinauswanderte und sich dort auf eine Bank setzte. Er zog das Foto aus Washington aus der Tasche, studierte es ein weiteres Mal und steckte es zurück.
Plötzlich wusste er, wie alles zusammenhing. Baiba hatte recht gehabt, seine geliebte Baiba, nach der er sich jetzt noch mehr sehnte.
Hinter jeder Person steht immer eine andere . Sein Irrtum war gewesen, dass er die Person, die ganz vorn stand, und die, die sich im Hintergrund verborgen hielt, verwechselt hatte.
Alles hing endlich zusammen, er sah das Muster, das ihm bisher entgangen war. Er sah es sehr deutlich.
Ein Fischerboot lief aus dem Hafen aus. Der Mann am Ruder hob die Hand und winkte Wallander zu. Er winkte zurück. Am Horizont im Süden türmte sich eine Gewitterfrontauf. In diesem Moment vermisste er seinen Vater. Das geschah nicht oft. Nach seinem Tod hatte Wallander zunächst eine erschreckende Leere gespürt, gleichzeitig aber auch Erleichterung. Jetzt waren Leere und Erleichterung vergangen. Jetzt vermisste er ihn ganz einfach und spürte eine große Sehnsucht nach den guten Augenblicken, die sie trotz allem miteinander erlebt hatten.
Er dachte an den Besuch bei der alten Frau,
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