Wallander 10 - Wallanders erster Fall
Kummer. Im Innersten wußte er, daß es am nächsten Tag vorbei sein würde, aber seine Unruhe, daß es einmal nicht so sein könnte, war stärker als seine Vernunft. Die Unruhe |36| war immer da. Als Wallander nach Hause gekommen war, setzte er sich an den Küchentisch und versuchte, sich darauf zu konzentrieren, eine Zusammenstellung dessen zu machen, was in der Nachbarwohnung geschehen war.
Aber er war unsicher. Wie führte man eigentlich eine Ermittlung? Wie analysierte man einen Tatort? Er sah ein, daß ihm noch viele grundlegende Kenntnisse fehlten, trotz seiner Zeit auf der Polizeihochschule. Nach einer halben Stunde warf er wütend den Bleistift hin. Alles war Einbildung. Hålén hatte Selbstmord begangen. Der Tippschein und der Buchverkäufer änderten nichts an dieser Tatsache. Er sollte lieber bedauern, daß er nicht mehr Kontakt mit Hålén gehabt hatte. Vielleicht war es die Einsamkeit, die am Schluß unerträglich für ihn geworden war?
Wallander ging rastlos in der Wohnung auf und ab. Mona war enttäuscht gewesen, und er hatte ihr Anlaß dazu gegeben.
Auf der Straße fuhr ein Wagen vorbei. Musik strömte aus dem offenen Wagenfenster:
The house of the rising sun
. Der Titel war vor ein paar Jahren ziemlich populär gewesen. Wie hieß noch gleich die Gruppe? Kings? Es fiel ihm nicht ein. Dann dachte er daran, daß er sonst um diese Tageszeit schwache Geräusche von Håléns Fernseher durch die Wand gehört hatte. Jetzt war es still.
Wallander setzte sich auf die Couch und legte die Füße auf den Tisch. Dachte an seinen Vater. An den Wintermantel und die Mütze. Die Füße ohne Strümpfe. Wenn es nicht so spät wäre, könnte er zu ihm fahren und Karten spielen. Aber er merkte, daß er müde wurde, obwohl es noch nicht einmal elf Uhr war. Er stellte den Fernseher an. Wie gewöhnlich wurde eine Diskussionsrunde gezeigt. Es dauerte eine Weile, bis er verstand, daß sich die Teilnehmer über die Vor- und Nachteile der neuen Welt unterhielten, die nach und nach entstehen würde. Die Welt der Computer. Er schaltete aus. Blieb noch eine Weile sitzen, bevor er sich gähnend auszog und ins Bett ging. Bald war er eingeschlafen.
Plötzlich war er hellwach.
Er lauschte in die Sommernacht hinaus. Etwas hatte ihn geweckt. Vielleicht war auf der Straße ein Wagen mit einem kaputten Auspuff vorbeigefahren. Die Gardine bewegte sich schwach vor dem angelehnten Fenster. Er schloß die Augen. Dann hörte er es wieder.
|37| Ganz dicht neben seinem Kopf.
Jemand war in Håléns Wohnung. Er hielt den Atem an und versuchte zu lauschen. Da war ein Geräusch, als ob jemand einen Gegenstand bewegte. Kurz danach hörte man ein Schlurfen. Jemand verschob ein Möbelstück. Wallander schaute auf die Uhr auf seinem Nachttisch. Viertel vor drei. Er preßte das Ohr an die Wand. Er hatte schon angefangen zu glauben, daß alles nur Einbildung gewesen war, als er von neuem ein Geräusch hörte. Es war ganz bestimmt jemand in der Wohnung nebenan.
Er setzte sich im Bett auf und fragte sich, was er tun sollte. Seine Kollegen anrufen? Wenn Hålén keine Verwandten hatte, konnte wohl niemand einen Grund haben, sich in der Wohnung aufzuhalten. Aber sie wußten nicht sicher, wie Håléns familiäre Situation aussah. Vielleicht hatte er jemandem Reserveschlüssel gegeben, von denen sie nichts wußten.
Wallander stand auf und zog sich Hose und Hemd an. Dann ging er barfuß ins Treppenhaus. Die Tür zu Håléns Wohnung war geschlossen. Er hatte die Schlüssel in der Hand. Plötzlich war er unsicher, was er tun sollte. Das einzig Vernünftige war zu klingeln. Schließlich hatte er die Schlüssel von Hemberg bekommen und damit eine Art von Verantwortung. Er drückte auf die Klingel. Wartete. Jetzt war es in der Wohnung vollkommen still. Er klingelte noch einmal. Noch immer keine Reaktion. Im gleichen Augenblick sah er ein, daß eine Person, die sich in der Wohnung befand, sehr leicht durch ein Fenster fliehen konnte. Es waren nur knapp zwei Meter bis hinunter auf die Straße. Er fluchte und lief die Treppe hinunter. Hålén hatte eine Eckwohnung. Wallander eilte um die Ecke. Die Straße war leer. Aber eines von Håléns Fenstern stand sperrangelweit offen.
Wallander ging zurück ins Haus und schloß Håléns Wohnungstür auf. Bevor er eintrat, rief er, bekam aber keine Antwort. Er machte das Licht im Flur an und ging ins Zimmer. Die Schubladen in der Kredenz waren herausgezogen. Wallander schaute sich um. Die Person, die in der Wohnung
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