Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Walled Orchard 01: Der Ziegenchor

Walled Orchard 01: Der Ziegenchor

Titel: Walled Orchard 01: Der Ziegenchor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Holt
Vom Netzwerk:
nicht sein, aber Verschwendung auch nicht. Verschwendung ist eine Beleidigung der Götter, die für uns sorgen, und daher moralisch verwerflich.
    Die Folge war, daß meine Trieren original tyrische Purpurumhänge bekamen; aber als die Umhänge fertig waren, ließ Nikias einen Sklaven kommen, der sämtliche Stoffreste aufsammelte, um sie auf dem Markt zu verkaufen. Der Chor wurde immer wieder bei voller Bezahlung eingeübt; doch lautete Nikias’ Anweisung, daß jeder Zuspätkommende einen Obolos Strafe zu bezahlen habe und die angesammelten Geldstrafen am Vorabend des Festspiels für eine Opfergabe an Dionysos verwandt werden sollten. Was die Schauspieler anbetraf, besagten die Vorschriften, daß sie Stundenlohn erhalten sollten, und deshalb wurde jede Probe mit einer Wasseruhr gemessen, die gestoppt wurde, sobald die Probe beendet war. Danach wurde das in der Uhr verbliebene Wasser sorgfältig gemessen, um genau um zu berechnen, was jeder einzelne Mitwirkende zu bekommen hatte, und zwar bis zum letzten Obolos.
    Das war fast unerträglich und rief in der Truppe mehr Mißstimmung hervor, als es der sonst übliche Geiz und erst 283
    später ausgezahlte Lohn getan hätten. Darüber hinaus war Nikias der Ansicht, seine Verantwortung für die Inszenierung ende nicht mit der regelmäßigen Auszahlung von Silbermünzen. Obwohl er nur ungern in der Öffentlichkeit auftrat, hielt er es offenbar für seine Pflicht, immer wieder Reden zur Ermunterung zu halten (natürlich bei laufender Wasseruhr). Diese Reden dauerten nie mehr als ein paar Minuten, wobei er eine gute, fast geschliffene Ausdrucksweise an den Tag legte; trotzdem habe ich mich mein ganzes Leben lang nie so gelangweilt.
    Bis zum heutigen Tag kann ich ihn mir bildlich vorstellen, wie er am Altar in der Mitte der Bühne stand, auf einen Stock gestützt, da er sich immer furchtbar unwohl fühlte, wenn er eine Ansprache halten mußte. Er pflegte sich zu räuspern, auf Ruhe zu warten und uns dann zu erzählen, daß wir stets bestrebt sein sollten, für die Stadt unser Bestes zu geben, da wir und die Stadt Athen völlig übereinstimmende Interessen hätten. Wenn wir Athen unterstützten, trichterte er uns (immer wieder) ein, würden wir sowohl altruistisch als auch egoistisch handeln – was natürlich moralisch vollkommen richtig sei, denn ein Mensch müsse das tun, was gut ist, aber auch stets das, was angebracht ist, wobei er zwischen diesen beiden Vorgehensweisen eine göttergleiche Harmonie herstellen müsse. Und er schloß immer mit der Aussage, es seien die Menschen, die eine Stadt ausmachten, nicht Mauern und Häuser und Tempel, und ohne gute Männer brächten sämtliche Trieren und alles Silber der Welt nichts als Kummer und Leid. Dann verließ er jedesmal schweigend das Rednerpult, ging schmerzerfüllt nach Hause und ließ 284
    uns alle völlig niedergeschlagen zurück – und in dieser gedrückten Stimmung sollten wir nun jedesmal weiter an der Komödie proben.
    Im starken Gegensatz zu Nikias’ Moralpredigten standen die Ansprachen von Philonides, die bei den Mitwirkenden noch gefürchteter waren. Ich habe Leiter sizilianischer Arbeiterkolonnen und die Aufseher in den Steinbrüchen und Silbergruben gehört, aber selbst die sprechen zu den Sklaven nicht so wie Philonides zu den freien Bürgern Athens, die in meinem Chor mitwirkten. Zwar hatten sämtliche Schauspieler schon zuvor wenigstens einmal mit ihm zusammengearbeitet, doch konnte das niemanden daran hindern, manchmal in Tränen auszubrechen oder sogar aus dem Theater zu laufen, und als ich Philonides aus Angst vor einer Gefährdung der ganzen Inszenierung darum bat, endlich damit aufzuhören, schien er mich nicht zu hören. Während dieser Proben erfüllte ihn anscheinend alles, was mit dem Stück zu tun hatte – nicht zuletzt der Text selbst – mit unerträglichem körperlichen Schmerz.
    Wenn ich mich aber nach einem besonders qualvollen Tag auf den Weg machte, ihn in seinem Haus zu besuchen, pflegte er immer nur zu lächeln, mir Wein einzuschenken und mir zu versichern, es handle sich um das beste Theaterstück, das jemals geschrieben worden sei, und es käme einem Verbrechen gegen Dionysos gleich, nur ein einziges Wort daran zu ändern. Zum Abschluß fragte er mich zumeist, wie sich meine Linsen in Phrearrhos machten, jetzt, da ich dazu übergegangen sei, Seegras als Dünger einzusetzen.
    285
    Während unserer Proben wurden die Türen des Theaters fest verriegelt und Sklaven mit Holzknüppeln davor

Weitere Kostenlose Bücher