Walled Orchard 01: Der Ziegenchor
nachlässig und vergeßlich gewesen sind wie wir heute, leuchtet es ein, daß, falls irgendein Abschnitt unserer überlieferten Geschichte historisch zutreffend ist, dies nur reiner Zufall sein kann oder es daran liegt, daß wir Menschen aus anderen Städten und Gegenden gefragt haben, woran sie sich erinnern können.
291
Aber Sie haben die Jahre bestimmt an den Fingern abgezählt und sitzen wahrscheinlich wie jemand in der Volksversammlung da, der auf gute Neuigkeiten über die Fischpreise wartet, und hoffen, daß ich endlich etwas über Mytilene und Pylos erzähle. Also schreibe ich jetzt lieber etwas darüber, sonst werden Sie noch an mir und meiner Geschichte verzweifeln und mein Buch an einen dieser Männer verkaufen, die die obere Papyrosschicht abkratzen, um es wiederzuverwenden. Also schön.
Ich bin übrigens auf der Volksversammlung gewesen, bei der es um Mytilene ging; das heißt, am ersten Tag und nicht am zweiten, als man seine Meinung geändert hat.
Dabei hatte ich überhaupt nicht vorgehabt hinzugehen; eigentlich stand ich auf dem Marktplatz herum und feilschte mit einem Mann um einen Ballen Schaffelle, die ich in Pallene als Decken verwenden wollte. Ich war so mit dem Versuch beschäftigt, ein paar Obolen zu sparen, daß ich nicht die Agoranomen, die mit polizeilichen Aufgaben betrauten Marktplatzwächter, mit dem in rote Farbe getauchten Seil über den Markt kommen sah – auf diese Weise trieb man zu meiner Zeit die Leute, die anscheinend nichts zu tun hatten, in die Volksversammlung. Jedenfalls duckte sich der Schaffellverkäufer plötzlich hinter seine Ballen, und als ich mich nach hinten umblickte, war da schon das rote Seil, das direkt auf mich zukam. Ich schaffte es gerade noch, die Pnyx zu erreichen, bevor mich die Agoranomen einholen konnten, und entging so den
›Rotbein! Rotbein!‹-Sprechchören, mit denen die letzten Ankömmlinge stets begrüßt wurden.
292
Dort hörte ich auch Kleon zum erstenmal in der Öffentlichkeit sprechen, und Sie können sich bestimmt vorstellen, welchen Eindruck das auf mich machte. Wenn er sich erst einmal in Rage geredet hatte, war er eine wirklich ehrfurchtgebietende Gestalt, und obwohl ich es als Komödiendichter für meine Pflicht hielt, ihn zu hassen, fiel mir das durchaus alles andere als leicht.
Wahrscheinlich wissen Sie über die mytilenische Krise mehr als ich, aber die Ausgangslage war folgende: Unsere Untertanen in Mytilene, der größten Stadt auf Lesbos, hatten rebelliert, und es war uns erst nach vielen Schwierigkeiten gelungen, die Revolte niederzuschlagen und die Herrschaft über die Stadt wiederzugewinnen. Aus diesem Grund war das Thema auf der Volksversammlung, was wir mit den Mytilenen machen sollten, und die meisten von uns hätten, zumindest bevor Kleon zu sprechen begann, dieselbe Antwort gegeben: Tötet oder verbannt die Rädelsführer, verdoppelt die Steuern und laßt eine Besatzungstruppe zurück. Aber Kleon hatte bezeichnenderweise eine viel bessere Idee. Er wollte ein solches Vorgehen, das uns, allgemein gesprochen, so oder so nicht viel Ehre bereiten würde, als Möglichkeit zu
›klarem Denken und radikalem Handeln‹ nutzen, um eine seiner Lieblingsfloskeln zu gebrauchen. Er wollte, daß wir dafür stimmten, jeden männlichen Erwachsenen in Mytilene ohne Rücksicht auf irgendeinen Einwand oder Entschuldigungsgrund hinzurichten. Wie er weiter argumentierte, würden wir auf diese Weise nicht nur demonstrieren, wie gefährlich es sei, mit den Athenern zu 293
spielen, sondern auch, wie vollkommen wir uns von anderen Städten unterschieden.
»Wer sonst in ganz Griechenland würde es wagen«, sprach er mit seiner herrlich-schrecklichen Stimme, »solch eine scheußliche Tat, nämlich die Vernichtung eines ganzen Volks, überhaupt nur in Erwägung zu ziehen?
Gleichgültig, wer das sonst noch könnte – obwohl es nur sehr wenige gibt, die dazu in der Lage sind –, wer sonst täte so etwas? Wer sonst würde so etwas wagen?«
An dieser Stelle hielt er inne und blickte sich langsam um, als ob sich jemand unterstanden hätte, ihn zu unterbrechen. »Aber ihr würdet es wagen, Männer von Athen, wenn ihr den Mut habt, Stellung zu beziehen! Und warum? Weil ihr in einer Demokratie lebt, der einzig echten Demokratie in der Weltgeschichte. Denn eine Demokratie, die eine echte Demokratie ist, kann tun, was ihr gefällt, und keine moralischen oder Sachzwänge können sie davon abhalten. Weil das Volk keine gleichbleibende Identität
Weitere Kostenlose Bücher