Wallner beginnt zu fliegen (German Edition)
Therese ihn fragen würde, würde er ihr ausweichen; wenn Wendy ihn fragen würde, was sie bis jetzt noch nicht getan hat, würde er ihr alles erzählen.
Costin: „Kommt Wendy auch?“
Therese: „Die ist noch in ihrem Zimmer. Holst du sie?“
Therese sagt, daß Wendy noch nicht genau wisse, was sie eigentlich wolle, sie wolle Medizin studieren, gut, Therese glaubt aber nicht, daß sie, Wendy, es auch tatsächlich tue, Wendy habe diesen Teenager-Traum, Gutes zu tun, die Welt zu ändern et cetera, sie schreibe viel Tagebuch, auch so Gedichte, glaube sie, Therese, ihre beste Freundin heiße Esther, einen Freund habe sie noch nicht gehabt, sie hänge noch sehr an ihrem Vater, also Albert, Entschuldigung, und müsse sich erst an den Gedanken gewöhnen, daß Costin ihr wirklicher, also, Vater sei, sie möge ihn, Costin, eigentlich, Therese wisse das – woher, das sagt sie nicht –, Wendy sei ein sensibles Mädchen, ein bißchen altklug manchmal, ihr Lieblingsgericht sei Broccoli-Suppe.
Auf Costins Frage hin, was er nur tun solle, hat Therese seine Hand ergriffen, was OK war in diesem Moment, es hat ihn getröstet, weil er schon irgendwie aufgewühlt ist, in dieser neuen Rolle, als Vater, und er das Gefühl hat, er verhalte sich falsch; Therese hat also seine Hand ergriffen, ihn verständnisvoll angeschaut und gesagt, er solle doch nur ein wenig Geduld haben, nur Geduld, das sei jetzt alles schwer, aber das werde schon, sie wisse das.
Er klopft an Wendys Tür. Von drinnen kommt Wendys Stimme: „Herein.“
Wendy sitzt am Computer und starrt auf ihren Bildschirm und tippt sehr schnell, sie lacht kurz auf, sie chattet wahrscheinlich.
Sie sagt: „Jause, ich weiß, komme gleich.“
Costin geht nicht ins Zimmer, sondern bleibt auf der Türschwelle stehen. Er möchte damit zeigen, daß er sich Wendy nicht aufdrängen will, nicht rumschnüffeln, er hätte es gehaßt, wenn sein Vater das getan hätte. Neben Wendys Megadisc-Player liegt die Megadisc, die er ihr letztes Mal, letzten Monat, mitgebracht hat, das registriert er, über dem Schreibtisch hängt das Poster einer Schauspielerin, die er auch kennt, aus dem Fernsehen, und die ziemlich gut aussieht – aber hängen Mädchen in dem Alter nicht eher Poster von jungen knackigen Männern mit Waschbrettbäuchen auf, er weiß es nicht; er möchte, daß Wendy merkt, daß er sich absichtlich nicht näher umsieht in ihrem Zimmer, aus Respekt, er möchte, daß sie merkt, daß er sie respektiert, er sagt: „OK, ich bin dann wieder im Speisezimmer mit Therese, ja?“ und läßt die Tür offen. Im Flur hört er, daß Wendy den Computer herunterfährt, wie sie aufsteht, sich räuspert.
55
Auf der linken Seite des Flugzeugs, das jetzt, beim Start, eine Schieflage eingenommen hat – Costin wird in den Sitz gedrückt –, ist noch einmal die Stadt als ein Gewirr von geschwungenen Linien, sind die Straßen, Plätze aus Licht aufgetaucht, der Berg mit der Festung schwarz vor dem Himmel, der noch erstaunlich hell gewesen ist, tiefblau.
56
„Olaf?“
„Paolo?“
„Olaf?“
„Ludwig?“
„Cos-tin!“
„Costin?“
„CO!“
Es besteht kein Zweifel: Bei dem abgemagerten Mann mit der schwachen Stimme, der, Kissen im Rücken, aufrecht im Bett sitzt, die Maske eines Beatmungsgeräts in der linken Hand hält und lediglich die vertrauten braunen Augen besitzt, bei diesem Mann muß es sich um Olaf – jetzt Ex-„Big Daddy“ – Erdrich handeln. Die Schwester, der Costin gesagt hat, er wolle zu Herrn Erdrich, hat ihn durch den Flur des zweiten Stocks zu dieser Tür geführt.
Einzelne weiße Härchen stehen, wohl übriggeblieben von der schlechten Rasur, von Olafs Gesicht und Hals ab. Costin reicht Olaf die Hand. Olaf hat einen Moment lang, als er ebenfalls den Arm gehoben hat und sich etwas vorbeugen mußte, um Costins Hand zu ergreifen, das Gesicht vor Schmerz verzerrt; ansonsten lächelt er, hat die ausgedünnten Augenbrauen ein klein wenig nach oben gezogen.
Costin fragt: „Wie geht’s, Olaf?“
Olaf sagt: „CO. Das ist ja witzig. Daß du hier bist, CO. Vor zwei Wochen hat mich die Seema besucht. Sie hat ja jetzt“ – Olaf Erdrich führt die Maske zum Mund, atmet ein, aus, spricht weiter – „das mit ihrer zweiten Karriere durchgezogen. Knallhart. War sie ja immer schon. Knallhartes Mädchen. Ich habe gesagt, ich finde das gut, habe ich gesagt. Weil sie hat ja noch immer diese Ausstrahlung, CO. Das ist ja sehr selten. Der gute alte Olaf Erdrich hat recht gehabt.
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