Walter Ulbricht (German Edition)
Bruder, die DDR. Sie bezahlte es mit ihrem Untergang. Das darf aber kein Grund sein, zu vergessen, was die Völker der Sowjetunion für den gesellschaftlichen Fortschritt geleistet haben. Es gäbe heute keine einigermaßen normalen Beziehungen zwischen Deutschen und Russen, wenn die UdSSR und die DDR dafür nicht den Grundstein gelegt hätten. Ich wünsche mir in der heutigen Bundesrepublik mehr Respekt gegenüber Russland, seinen Menschen und vor allem den Millionen Opfern deutscher Grausamkeit im Zweiten Weltkrieg.
Zu den Defiziten des gewesenen Sozialismus gehörte, dass es keine festen Regeln für die Ablösung des ersten Mannes in Partei und Staat gab. Das wirkte sich negativ aus, als Ulbricht ein Alter erreicht hatte, das einen Rückzug aus der aktuellen Politik nahegelegt hätte. Als er seinen Rücktritt Ende der 60er Jahre anbot, riet Breshnew ab. Gomulka in Polen säße nicht mehr fest im Sattel und Husák in der CSSR noch nicht sicher genug. In dieser politischen Situation, so Breshnew, sei ein Rückzug Ulbrichts ein falsches politisches Signal. Ulbricht zeigte Disziplin und blieb. Allerdings wurde er zunehmend eigensinniger. In Moskau war man darüber besorgt wie auch über Meinungsverschiedenheiten im SED-Politbüro bezüglich der Konzeption Ulbrichts zur Unterstützung der Ostpolitik der SPD.
Am 28. Juli 1970 sprachen Breshnew und Honecker miteinander über Ulbricht und hinter dessen Rücken. Der KPdSU-Generalsekretär beklagte eine »gewisse Überheblichkeit« gegenüber der Sowjetunion. Ihm missfiel, dass Ulbricht angeblich so tue, als habe die DDR das »beste Modell des Sozialismus«. Er tadelte auch Ulbrichts Absicht, der Brandt-Regierung entgegenzukommen. Breshnew meinte, vor Illusionen über Brandt warnen zu müssen. Es dürfe zu »keinem Prozess der Annäherung zwischen der BRD und der DDR kommen«. Einen solchen Prozess würden nämlich Brandt und Strauß wollen. In dieser Beziehung gebe es zwischen beiden keinen Unterschied. Westdeutschland, so Breshnew, sei im Verhältnis zur DDR wie jeder andere Staat Ausland. Über Ulbricht sagte der KPdSU-Chef: Er habe seine Verdienste, man könne ihn nicht einfach zur Seite schieben. Aber er sei alt. Selbst der Gegner würde damit rechnen, dass Honecker die Partei leite und »Walter als Vorsitzender des Staatsrates wirkt«. Damit wurde der Prozess eingeleitet, der Anfang Mai 1971 schließlich dazu führte, dass Ulbricht die Funktion als Erster Sekretär des ZK der SED verlor.
Zur Vorbereitung dieses Buches traf ich mich mit noch lebenden Weggefährten Ulbrichts. Viele von ihnen kamen nach dem Krieg aus der Gefangenschaft. Ihnen war bis 1945 nicht vergönnt, eine hohe Schule zu besuchen. Das Bildungsprivileg der bis dahin Herrschenden hatte sie davon ausgeschlossen. Ulbricht und seine Genossen brachen mit dieser Tradition. Sie schufen die Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten. Hermann Kant hat in seinem DDR-Bestseller »Die Aula« das Schicksal dieser Generation eindrucksvoll geschildert. Aus den untersten sozialen Schichten der Gesellschaft wuchs ein großer Teil der DDR-Intelligenz heran. 1989 arbeiteten viele aus dieser Generation an den Schaltstellen von Politik und Wirtschaft, Bildung und Technik, Kultur und Sport, im Gesundheits- und Sozialwesen. Diese einmalige kulturpolitische Leistung der DDR wurde 1990 durch die Bundesrepublik Deutschland aus politischen Gründen zerstört.
In diesem Buch kommen siebzig Weggefährten Ulbrichts zu Wort. Die Begegnungen mit ihnen, von denen manche zehn, fünfzehn oder gar fast zwanzig Jahre älter sind als ich, gingen mir sehr nahe. Manche sind seit Jahren bettlägerig. Aber ungebrochen. Ihre Lebensbedingungen sind bescheiden. Ihre Strafrente reicht oft nicht, um den Platz im Pflege- oder Seniorenheim zu bezahlen. Sie denken viel nach über sich, die DDR und unsere Niederlage, bewerten ihr eigenes Tun differenziert, sind aber vor allem sich und der Sache, die sie vertreten haben, treu geblieben.
Ich höre schon den Einwand: Alles subjektiv! Ja, wie das eben mit Erinnerungen so ist. Sichtweisen können verschieden sein. Fakten sollten aber Fakten bleiben. Manche Erinnerungen verblassen. Manche erhalten nachträglich ein stärkeres Gewicht. Andere werden erst aus heutiger Sicht wieder lebendig. Darf man sie deshalb denunzieren? Sie gehören genau wie die Akteure der alten Bundesrepublik in das Geschichtsbuch der Deutschen.
Von Konrad Adenauer ist eine bemerkenswerte Einsicht überliefert: »Die Errichtung eines neuen
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