Wandlungen einer Ehe: Roman (German Edition)
Herzog von Enghien! Ich fühlte und wußte genau, was er sagen wollte. Ich begann wieder zu feilschen: »Aber sieh doch«, sagte ich, »vielleicht ist das alles gar nicht so unerträglich. Irgendwann kommt das Alter. Dann ist es vielleicht gar nicht so schlecht, daß du dich ein bißchen wärmen kannst, wenn alles um dich herum kühler wird.«
»Genau das ist es«, sagte er, »das Alter, genau das lauert auch hinter alldem.«
Er war achtundvierzig Jahre alt, als er das sagte. In dem Herbst war er achtundvierzig geworden. Aber er schien viel jünger. Er ist erst nach unserer Scheidung auf einmal alt geworden.
In jener Nacht sprachen wir aber nicht mehr davon. Auch am folgenden Tag nicht, nie mehr. Zwei Tage darauf reisten wir nach Hause. Als wir ankamen, hatte das Kind schon Fieber. Eine Woche später starb es. Danach sprachen wir überhaupt nie mehr von persönlichen Dingen. Wir lebten einfach nebeneinander und warteten auf etwas. Auf ein Wunder vielleicht. Aber Wunder gibt es nicht.
Einige Wochen nach dem Tod des Kindes kam ich vom Friedhof nach Hause und trat ins Kinderzimmer.
Mein Mann stand dort im Dunkeln. »Was willst du hier?« fragte er grob.
Dann besann er sich und ging rasch hinaus.
»Entschuldige«, sagte er über die Schulter hinweg von der Schwelle.
Dieses Zimmer hatte er eingerichtet. Er hatte jedes Möbelstück ausgesucht und für jedes den genauen Platz bestimmt. Allerdings war er, solange das Kind lebte, selten hereingekommen, und auch dann blieb er verlegen auf der Schwelle stehen, als fürchtete er sich vor der leisen Lächerlichkeit einer sentimentalen Situation. Doch er ließ sich das Kind jeden Tag bringen, in sein Zimmer, und jeden Morgen und Abend mußte man ihm melden, wie der Kleine geschlafen hatte, ob er aß, ob er gesund war. Und dann betrat er das Kinderzimmer nur noch ein einziges Mal, ein paar Wochen nach der Beerdigung. Sonst war das Zimmer abgeschlossen, den Schlüssel hatte ich, und drei Jahre lang, bis zu unserer Scheidung, blieb alles so wie in dem Augenblick, als wir das Kind in die Klinik gebracht hatten. Nur ich ging manchmal hinein, um sauberzumachen und … na ja, ich ging also manchmal hinein, wenn es niemand sah.
In den Wochen nach der Beerdigung war ich halb wahnsinnig. Aber ich schleppte mich mit einer Art Hartnäckigkeit vorwärts, ich wollte nicht zusammenbrechen. Ich wußte, daß er womöglich schlechter dran war als ich, daß er wirklich vor dem Zusammenbrechen war und mich brauchte, auch wenn er es nicht zugab. In diesen Wochen geschah etwas, zwischen mir und ihm, oder zwischen ihm und der Welt … ganz genau kann ich es nicht sagen. Etwas zerbrach in ihm. Das alles geschah natürlich ohne Worte, wie die großen, gefährlichen Dinge eben zu geschehen pflegen. Wenn man redet, weint und schreit, ist alles schon leichter.
Auch bei der Beerdigung war er ganz ruhig und sagte kein Wort. Seine Ruhe griff auf mich über. Wir gingen schweigend und ohne eine Träne hinter dem kleinen golden-weißen Sarg her. Weißt du, daß er danach kein einziges Mal mehr mitkam, das Grab zu besuchen? … Vielleicht ist er allein hingegangen, wer kann es wissen.
Einmal sagte er: »Wenn man weint, ist man schon nicht mehr ehrlich. Da hat man die Sache bereits hinter sich. Ich glaube den Tränen nicht. Schmerz hat weder Tränen noch Worte.«
Was in jenen Wochen in mir vorging? … Jetzt nachträglich würde ich sagen, ich hätte Rache geschworen. Rache? An wem? Am Schicksal? An den Menschen? Törichte Worte. Das Kind war von den besten Ärzten der Stadt behandelt worden, kannst du dir ja denken. Wie man zu sagen pflegt: »Es ist alles Menschenmögliche getan worden.« Das sind so Wörter. Erstens ist gar nicht alles getan worden, was menschenmöglich war. Die Menschen waren mit ganz anderem beschäftigt in den Tagen, als der Kleine im Sterben lag, sie hatten andere Sorgen, als mein Kind zu retten. Das kann ich den Menschen nicht verzeihen, noch heute nicht. Doch ich schwor auch auf andere Art Rache, nicht mit dem Verstand, sondern mit den Gefühlen. In mir loderte die wilde, kalte Flamme einer seltsamen Gleichgültigkeit und Verachtung. Es ist nicht wahr, daß man durch das Leiden geläutert und besser, weiser, verständnisvoller wird. Man wird kalt, abgeklärt und gleichgültig. Wenn man zum erstenmal im Leben wirklich versteht, was Schicksal bedeutet, wird man fast ruhig. Ruhig und so merkwürdig und beängstigend einsam.
Auch in jenen Wochen ging ich, wie immer, zur Beichte.
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