Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)
anbehalten. Nach der Kirche hatten Franco und ich einen nassen Fleck am Po. Wir drückten uns lachend an der Kirchenmauer entlang bis zur Vespa. Lauter verhutzelte Omas ganz in Schwarz sahen uns mürrisch an. Wir fuhren Esskastanien sammeln, und dort in dem Wald, da stand plötzlich ein Jäger, der hatte geschossene Singvögel an seinem Gürtel hängen. Wir rauchten Zigaretten, während wir auf der Vespa um die Serpentinen kurvten. Franco konnte freihändig fahren, und die Streichhölzer, die er hatte, waren viel kleiner als unsere hier, und er strich sie während der Fahrt an den warmen Mauern an und gab mir Feuer.«
Die Italiensehnsucht meiner Mutter paarte sich mit noch einer anderen, nicht minder vehementen Sehnsucht, der danach, künstlerisch tätig zu sein. Es begann mit dem Binden sogenannter Trockensträuße. Tannenzapfen bekamen lange Stiele aus Draht und wurden golden angesprüht, Blumen kopfüber aufgehängt, bis die Blüten zeitlos erstarrten, und exotische Samenkapseln im Geschäft für Bastlerbedarf gekauft. Die Sträuße, die daraus entstanden, waren staubig morbide Gebinde, die – und das rühmte meine Mutter an ihnen – vielfältig verwendet werden konnten. »Diesen Strauß, den kann ich jetzt auf die Fensterbank legen, an die Türklinke hängen oder in eine Vase ohne Wasser stellen.« Mein Vater holte tief Luft, verkniff sich jeden Kommentar und las weiter.
Nach den Trockensträußen kam die Kunst des Töpferns an die Reihe, und ich war beeindruckt, was meine Mutter zustande brachte. Selbstverständlich machte sie keine Teller, Schalen oder Aschenbecher. In ihrem blauen Arbeitskittel knetete und formte sie halbe Meter große Frauenfiguren. Die erste Riege dieser gesichtslosen Skulpturen explodierte im Brennofen, da der Ton entweder noch nicht ganz trocken, vorher nicht genügend durchgearbeitet oder die Figuren schlichtweg schlecht aufgebaut waren. Der zweite Durchgang verlief wesentlich besser. Glücklich präsentierte sie uns die rot gebackene, teilweise glasierte Figurengruppe. »Das Besondere daran ist, dass man sie ganz unterschiedlich aufstellen kann. Da entstehen immer neue Konstellationen.« Mein Vater saß in seinem Sessel, holte tief Luft, verkniff sich jeden Kommentar und las weiter.
Doch Trockensträuße und Tonskulpturen waren nur die Vorboten der eigentlichen Berufung. Meine Mutter kaufte sich eine Staffelei, Ölfarben und belegte einen Kurs an der Volkshochschule. Sie malte ein Bild pro Tag, da sie viel zu ungeduldig war, das Abtrocknen einer Farbschicht abzuwarten. Ihr Hauptproblem war von Anfang an und blieb immer das perspektivische Malen. Auf vielen ihrer Bilder schimmern durch die dünn aufgetragenen Farben die dick mit Bleistift gezogenen Linien, die Hilfe suchend auf einen Fluchtpunkt zustreben – diese Striche waren Leitplanken, die den Pinsel vorm wirren Abgrund retten sollten. Es half alles nichts. Unser Hund im Vordergrund sah aus, als wäre er so groß wie ein Elefant, und die Reetdachkate im Hintergrund schien zehn Kilometer entfernt zu sein. Um sich zu verbessern, fuhr sie für mehrere Wochen zu einem Kurs in die Toskana und kam braun gebrannt mit einem ganzen Arm voll Leinwänden zurück. Pinien, Hügel, Steinhäuser. Doch sobald eine Treppe zu einem Eingang hinaufführte, krachte alle Statik zusammen. Selbst das ehrwürdige Alter der Behausung konnte für eine so windschiefe Treppe nicht herhalten. Keinem Menschen wäre es möglich gewesen, unbeschadet diese Stufen zu ersteigen. Doch sie blieb bei ihren mediterranen Motiven. Stundenlang malte sie selbstversunken an diesen hell erdfarbenen, blauhimmeligen Landschaften herum. Draußen heulte der norddeutsche Wind, und der Regen peitschte so heftig gegen die Fensterfront, als wohnten wir mitten in der Brandung des Nordmeeres. Sie malte und malte: südliche Wärme, Terrakotta – Terrassen mit blühenden Oleandern in bauchigen Töpfen, Menschen ohne Gesichter an gedeckten Tafeln unter Olivenbäumen. Stets im Hintergrund ein paar dunkelgrüne, spitz-schmale Zypressen. Sauber aufgereiht. Man sah, wie gerne sie sie malte, wie dankbar sie der toskanischen Landschaft für diesen Ordnung ins Bild bringenden Baum war. Vorne größer, im Bildhintergrund kleiner, ganz hinten auf der Hügelkette winzig: Das brachte Tiefe und Weite. Und mein Vater? Mein Vater holte tief Luft, verkniff sich jeglichen Kommentar und las weiter.
Aus dem Nichts
Ein Schulfreund von mir feierte seinen siebzehnten Geburtstag. Sein Vater war General
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