Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)
und dann bekamen wir sie kaum noch hoch. Wir stöhnten bei jeder Anstrengung. »Ist o. k., Jungs! Lasst mal die Platten und bringt mir die Tritte. Wir haben es gleich geschafft.«
Die Tritte waren leichte Aluminiumstufen. Doch wir trugen sie, als wären es Findlinge in einer sibirischen Strafkolonie. In Zeitlupe, gebückt, am ganzen Körper zitternd, schleppten wir wie in Trance federleichte Aluminiumblenden zum Laster. Und dann konnten wir einfach nicht mehr. Ich sackte zuerst zusammen, drei Aluminiumblenden später mein Freund. »Habt ihr gut gemacht, Jungs!«
Er gab jedem von uns einen Hundertmarkschein. »Den Rest schaffen wir auch ohne euch. Ihr fleißigen Bienchen.« Eine Gruppe von Männern, die schon längere Zeit untätig herumgestanden war und uns belustigt beim Taumeln zugesehen hatte, begann die letzten Kleinteile zusammenzupacken.
Wir schleppten uns zu unseren Fahrrädern. Von Krämpfen geschüttelt, brauchte ich endlos lange, um die Zahlenkombination meines Fahrradschlosses einzustellen. Wir fuhren los. Es war Viertel nach vier. Eigentlich hatten wir geplant, noch kurz bei meinem Freund vorbeizufahren, zu duschen und uns umzuziehen. Ich hatte dort meine Anziehsachen für die Party deponiert: eine neue, hautenge schwarze Jeans und ein sorgfältig durchlöchertes T-Shirt. Mein Freund aber kam nicht mehr mit, ohne ein Wort zu sagen, bog er plötzlich ab und glitt bereits wie im Tiefschlaf davon. Doch ich musste zu dieser Party! Dreckig und stinkend rollte ich im Morgengrauen im ersten Gang, obwohl es sogar leicht bergab ging, durch die sonntäglich schlafende Kleinstadt in Richtung Freiheit. Der wachhabende Soldat sah mir fragend ins ausgezehrte Gesicht. Zitternd gab ich ihm meinen Einlass-Schein und durfte in die Kaserne.
Im Offizierskasino wurde immerhin noch getanzt. Aber nicht mehr wild. Weiche, sogenannte Engtanzmusik erfüllte den verrauchten Raum. Es roch nach Bier, nach verbrauchter Luft. Im Dämmerlicht lagen überall Paare in den Nischen. Die Tanzenden hatten die Augen geschlossen, waren zum Teil barfuß, eng umschlungen, die Köpfe aneinandergelehnt. Ich stand in der Tür. Und das, was ich sah, war ein einziges stimmungsvolles Mahnmal des Verpassens. Ganz leise spürte ich den Zorn in mir aufsteigen.
Ich ging wieder hinunter und setzte mich auf die Kante eines gefällten Baumes. Der Geruch, der aus seinem hohlen, von Nässe zersetzten Stamm aufstieg, war unangenehm. Ein Schwarm mit den Flügeln dem Morgen applaudierender Tauben kam näher und ließ sich nicht weit von mir auf dem Gehweg nieder. Der Anblick der Vögel tat mir gut, der wohlkoordinierte Landeanflug, ihre schillernden Federn, das beruhigende Gurren. Sie pickten etwas vom Boden, tippelten aufgeregt umeinander herum. Ein zweiter Taubenschwarm flog zielstrebig heran, landete, drängelte sich zwischen die Zuvorgekommenen. Ich stand vom morschen Holzstamm auf und ging auf die Tauben zu. Sie waren so mit Drängeln und Picken und Stehlen und Schlucken beschäftigt, dass ich nah an sie herantreten konnte, ohne dass sie aufflogen. Jetzt waren sie direkt vor meinen Füßen. Da schleuderte sie der Schreck in die Höhe. Ich sah ihnen nach, fünfzig waren es bestimmt. Flatternde Taubenwolke im Gegenlicht. Ich sah hinunter auf den Gehweg. Eine große Pfütze Kotze. Nudelreste und Bröckchen in gallegelber Sauce. Meinem Ekel folgte echoschnell der Zorn. Wutentbrannt konnte ich den Blick nicht von der widerlichen Pfütze wenden.
Ich war der Einzige, der nüchtern war, und das wollte ich jetzt so schnell wie möglich ändern. Ich mixte mir einen Cocktail, einen B 52 – damals unser Lieblingscocktail. Ich zündete ihn an, löschte ihn, trank ihn auf einen Zug aus und mixte mir gleich noch einen. Hier und dort wurde sich verabschiedet. Die Fenster waren offen, und die Vögel sangen. Ich hörte jemanden sagen: »Das war keine Party, das war eine Messe!« Durch eines der Fenster sah ich die Schlei, die Möweninsel. In der Stille des Morgens saßen einige am Ufer. Ein Mädchen ließ sich zwischen militärischen Schnellbooten auf dem Wasser treiben, nackt, spielte toter Mann.
Und dann passierte es: aus dem Nichts. Ich nahm eine der leeren Bierflaschen und warf sie gegen die Wand. Dann die nächste und immer so weiter. Mit aller Kraft! Wo genau diese Kraft noch herkam, weiß ich nicht. Ein berstender Furor ergriff mich. Mitschüler brachten sich wegduckend in Sicherheit, ich verschanzte mich hinter der Theke und schleuderte nun auch volle
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