Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)
anziehen und unter Menschen gehen. Ich kann einen Spaziergang machen und kenne die Namen vieler Bäume und Blumen. Ich kann einen Tisch so decken, dass es schön aussieht. Ich kann ein Buch lesen und begreifen, worum es in dem Buch geht. Ich kann schön singen …«
Sie zählte bestimmt fünfzig Dinge auf, die sie konnte. Lauter selbstverständliche Dinge. Aber eben nur scheinbar selbstverständlich.
Freundinnen
Wenn wir unsere Schuhe vor die Türen unserer Kinderzimmer stellten, hieß das: »Ich will nicht gestört werden.« Abschließen durften wir nicht. »In unserer Familie werden keine Türen abgeschlossen.« Warum mein Vater abgeschlossene Türen so ablehnte, weiß ich nicht. Es gab eine Zeit, später, wo wir alle Freundinnen hatten und vor jeder Tür zwei Paar Schuhe standen. Schon an den Schuhen konnte man sehen, wie unterschiedlich wir waren. An den Schuhen und an der Musik. Obwohl nur jeweils drei Jahre zwischen uns lagen. Unterschiedlicher hätten wir nicht sein können.
Mein ältester Bruder hörte Jazz und rauchte Pfeife. Dabei war er gerade zwanzig. Er hatte allerdings noch zwei Jahre Schule vor sich, da er schon dreimal sitzen geblieben war. Schulrekord. Wir nannten ihn den Frührentner oder Trichterbrust, da er in seinen viel zu großen Sachen so gebückt ging. Er war immer müde und brauchte nach dem Zimmerstürmen absolute Ruhe für seinen Mittagsschlaf. Wenn er und seine Freundin in seinem muffigen Zimmer verschwanden, in dem mittlerweile fünf Einhundert-Liter-Aquarien vor sich hin blubberten, standen zwei Paar ausgelatschte Sandalen vor der Tür.
Mein mittlerer Bruder war das geworden, was man damals einen Popper nannte. Er ging einmal in der Woche zum Friseur und trug mit siebzehn Slipper, an denen kleine Bommelchen hingen. Er las Sartre und Kant, und durch meine Wand hindurch hörte ich ihn seiner Freundin enthusiastische Vorträge halten. Die Schuhe seiner Freundin sahen genauso aus wie seine, mit Bommelchen, nur kleiner. Ihre Musik bummerte monoton vor sich hin. Einmal sah ich ihn bei einer Party in unserem Keller tanzen. Die Finger geschlossen, die Hände gestreckt, vollführte er mechanische Armbewegungen, schnitt hektisch-zuckend Winkel in die Luft. Ich dachte, er macht einen Witz, aber es war wohl ernst gemeint.
Ich hörte nur düster Getragenes und war schwarz angezogen. Mein Bruder fragte mich, ob ich wüsste, dass Schwarz die Farbe der Existenzialisten sei. Ich kannte das Wort nicht, und schon lag ich wieder auf dem Boden und wälzte mich. Ich trug sogenannte Springerstiefel, genau wie meine Freundin. Wir kannten uns noch nicht lange, und sie musste spätestens um neun zu Hause sein. Wenn die Musik ausging, die Schallplatten nicht mehr gewendet wurden, wurde meine Mutter unruhig. Die Vorstellung, dass in allen drei Kinderzimmern aneinander rumgefummelt wurde, machte sie nervös. »Jetzt kommt mal wieder alle raus!«, rief sie in den Flur. Oder: »Hat jemand Hunger? Es gibt Abendbrot.« Wenn sie es nicht länger aushielt, rannte sie durchs Haus und zog bei allen Toiletten die Spülung. Immer und immer wieder. Ich lag – schon etwas ausgezogen – mit meiner Freundin im Bett, und im Haus rauschte und blubberte es.
Mein Vater war da etwas gelassener. Er sagte: »Ihr könnt machen, was ihr wollt. Aber die Hosen bleiben zu.« Nicht genug damit, dass meiner ersten zarten Liebe und mir auf dem Nachhauseweg ein Verrückter »Naaa, wird jetzt wieder ordentlich Ficki Ficki gemacht?« zurief, nein, auch der eigene Vater ein Wahnsinniger. Er war mir peinlich. Er war mir oft peinlich vor meiner Freundin. Zum Beispiel, wenn er als Willy mit einem der Patienten Biene Maja spielte und über den Parkplatz brummte. Jahrelang wurde mein Vater jeden Morgen von einem Patienten abgeholt, der ein Autolenkrad in den Händen hielt. Er war der Chauffeur meines Vaters. Mein Vater ging ihm zu Fuß hinterher, schlenkerte zufrieden mit seinem Arztkoffer, und einen Meter vor ihm hielt dieser Junge das Lenkrad in die Luft, kurbelte mal nach links oder rechts und flatterte mit den Lippen ein feuchtes »Brrrrrrrrum«.
Ich wusste nie, was ich beim Küssen und Anfassen denken sollte. Damals mit meiner Freundin hat mich das zur Verzweiflung getrieben. Um bei der Sache zu bleiben, dachte ich mir einen Trick aus. Ich begann zu zählen. Fünfmal küssen mit geschlossenem Mund. Zehnmal Zunge kreisen lassen. Zwanzigmal den Rücken hoch- und runterfahren. Die Brustwarze fünfmal so rum und dann fünfmal andersrum
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