Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)
Haar mit einem lässigen Schwung beiseite, um so die Muschel besser ans Ohr legen zu können. Mein Vater, der dies von seinem Sessel aus sah, auch dies gehörte zum Ritual, warf mal eher genervt, mal aber auch durchaus vorwurfsvoll sein Buch auf den Boden und verließ demonstrativ das Zimmer. Am Apparat war Franco. Meine Mutter sprach italienisch mit ihm. Fließend. Man hörte Franco überschäumend aus dem Hörer heraus, und meine Mutter schäumte zurück. Diese plötzlich das norddeutsche Haus erfüllenden Sprachkaskaden verwandelten meine Mutter. Sie fuchtelte mit der freien Hand herum, streckte ihren Busen heraus, schien längere Beine bekommen zu haben und rief ihre italienischen Sätze in den Hörer. Ihre Stimme war eine völlig andere. Alles Wattierte, Ausgleichende, ewig Harmonisierende war wie abgesprengt. Laut, klar und sich vor Lebendigkeit überschlagend sprudelte es aus ihr hervor.
Meistens rief Franco am Abend an, und nach den Telefonaten mit ihm wusste meine Mutter oft nicht, wohin mit sich. Sie sah auch wirklich nicht so aus, als könne sie sich jetzt neben meinen dicken Frühinsbettgeher-Vater legen und eine Runde Stifter lesen. Sie war viel zu erregt. Alles an ihr schien im Laufe des Telefonats dunkler geworden zu sein. Ihr Haar, ihr Teint, ihre Augen. War sie als etwas blasse, frierende, sich mit tagtäglicher Anstrengung im Norden akklimatisierende Enddreißigerin zum Telefon gestartet, war sie beim Auflegen von einer südländischen Glut durchströmt, die hier nahe der dänischen Grenze nichts verloren zu haben schien. Sie blies sich eine Strähne aus dem Gesicht und sah sich entsetzt um. Wie ein unruhiges Pferd trat sie leicht von einem Absatz auf den anderen. Neun Uhr bei uns. Mein Vater würde sich bald schlafen legen. Neun Uhr in Rom. Zweitausend Kilometer. Franco brach jetzt auf, um mit seinen Freunden zu feiern. Nach diesen Telefonaten, bei denen sie mit jeder italienischen Silbe schöner geworden war, steckte meine Mutter wie ein zu lebendiger Stachel in der vordergründigen Heilheit unserer Familie.
Hin und wieder führte meine Mutter sich auf, als hätte sie mein Vater in den Norden verschleppt, als sei er ein mit allen Wassern gewaschener Entführer, der sie im schleswig-holsteinischen Klima zermürben wollte.
Wenn sie dann die Sehnsucht nach Italien packte, gab sie eigenartige Dinge von sich und konnte regelrecht grob werden, was bei ihr äußerst selten vorkam. Natürlich war das Hauptthema immer die Wärme, die sie im Norden so schmerzlich vermisste. »Ich tue überhaupt nichts anderes hier«, erregte sie sich, »als damit beschäftigt zu sein, nicht zu erfrieren. Ich bekomme Kopfweh von dieser Eiseskälte, weil ich ununterbrochen meine Schultern hochziehe. Das letzte Mal, dass ich warme Füße hatte, war vor zehn Jahren. Was mach ich hier bloß? Mein Gesicht krampft sich immer mehr zusammen. Wie ein wettergegerbter Kerl sehe ich aus. Das Schlimmste ist: man gewöhnt sich dran! Irgendwann glaubt man dann wirklich, dass fünfzehn Grad eine hochsommerliche Temperatur sind. Da glaubt man dann wirklich, dass es keinen einzigen Menschen auf diesem Planeten geben kann, der abends auf der Terrasse sitzt und Rotwein trinkt. Und von dieser Kälte werde ich müde – todmüde macht mich diese Eiseskälte. In Italien, da war ich immer hellwach, da konnte ich bis drei, vier Uhr in der Früh unterwegs sein, ohne ein einziges Mal zu gähnen. Aber hier in diesem Schleswig, da gähne ich schon nach dem Aufstehen. Da gähne ich mich durch den Tag, und um neun will ich durchgefroren nur noch ins Bett. Zähneklappern und Gähnen, das ist mein Leben hier! Und dein Vater, dein fürsorglicher Vater, schenkt mir eine elektrische Decke. So als ob ich eine gichtkranke Oma wäre. Das ist doch wirklich eine Unverschämtheit. Eine elektrische Decke. Die Dinger sind lebensgefährlich. Und das weiß er auch ganz genau. So stellt sich das dein Vater vor. Er sitzt ungestört in seinem Sessel und liest, und ich liege Mitte August mucksmäuschenstill unter meiner elektrischen Decke. Ich halt das hier nicht mehr aus. Ich erfriere. Ich will zurück nach Italien.«
Sie konnte aber auch schwärmen, das klang für mich wie im Märchen:
»Franco und ich, wir fuhren frühmorgens mit der Vespa zum Strand und gingen schwimmen. Und von dort aus direkt in eine kleine, auf einem Berg gelegene Dorfkirche in die Messe. Als wir oben ankamen, waren meine Haare schon wieder trocken. Unsere nassen Badesachen hatten wir
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