Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)
lecken. So blieb ich bei der Sache. Doch dann hat mich meine Freundin plötzlich weggestoßen und mich gefragt, was ich da eigentlich die ganze Zeit machen würde. »Du zählst, oder?« »Was?«, stammelte ich, »was meinst du?« »Du bist ja verrückt. Du zählst mit. Oh Gott, was bist du denn für ein Psycho?« Ich behauptete, nicht zu verstehen, was sie meinte. »Na, du zählst. Alles, was du machst, machst du entweder fünf- oder zehnmal. Gott, wie krank ist das denn.« Von da an war unser Liebesleben nachhaltig gestört. Ich versuchte, sie nur noch ungerade zu küssen. Es war schrecklich. Wir lagen nebeneinander im Bett, und weinend flüsterte sie: »Nie fünf und nie mehr zehn – das kann doch auch kein Zufall sein.«
Wann genau ich begriff, dass mein Vater andere Frauen traf, bleibt mir ein Rätsel. Plötzlich blätterte er versonnen in Männermodekatalogen. Schnitt sich die wenigen Haare. Ich musste seine Ohren kontrollieren, ihm mit einer Pinzette die verhassten Ohrhaare ausreißen. Er nahm ein paar Kilo ab und kaufte sich neue Hemden. Je freundlicher er zu meiner Mutter war, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, dass er sich wieder einmal verliebt hatte. Meine Mutter litt ein Leben lang unter seinen Affären.
Ich zupfte die Haare von seinem Kamm und untersuchte sie unter dem Mikroskop meines Bruders. Ich sah, wie er einer Krankenschwester einen kurzen verschlüsselten Blick zuwarf. Ich schlich mich nachts in die Garage und notierte den Kilometerstand seines Autos. Verwickelte ihn in Gespräche über seinen Tag und fand heraus, dass er, obwohl er behauptete, nur in der Stadt herumgefahren zu sein, über hundert Kilometer mehr auf dem Tacho hatte. Ich durchwühlte seine Taschen und fand das Passfoto einer Frau. Ich drückte die Wahlwiederholung unseres Telefons, und eine Stimme hauchte: »Hallo?«
Als einen weiteren offensichtlichen Beweis seiner Liebschaften nahm ich die Tatsache, dass er nur noch so tat, als ob er lesen würde. Ich kannte den Rhythmus, mit dem er die Seiten eines Buches umblätterte, genau. Ohne von meiner von ihm für mich abonnierten Zeitschrift aufzusehen – ich war von »Die Wüste« zu »Bild der Wissenschaft« gewechselt –, überwachte ich seine Umblätterfrequenz. Minutenlang starrte er auf eine einzige Seite und blätterte immer erst dann um, wenn ihn irgendein Geräusch kurz aufschrecken ließ: der Hund kam herein – umblättern – ich wechselte meine Liegeposition – umblättern – meine Mutter betrat das Zimmer – intensives Umblättern.
Als alle Indizien gegen ihn sprachen, stellte ich ihn zur Rede. Er saß in seinem Sessel und las im »Stern«. Ich kam zur Tür herein und setzte mich neben ihn: »Na.«
Mein Vater sah freundlich auf: »Na.«
Mir war ganz schlecht vor Aufregung: »Ich muss dich was fragen.«
»Ja, was denn?« Da ich nichts sagte, machte mein Vater: »Hm.«
»Warum lügst du?«
»Was?«
Ich wiederholte leise meine Frage: »Warum lügst du?«
Mein Vater ließ den »Stern« auf seine Beine sinken: »Was meinst du?«
»Ich …«, mein ganzer detektivischer Mut war dahin, »ich hab auf die Wahlwiederholung gedrückt. Da war eine Frau dran.«
Mein Vater sah mich an: »Ja und?«
»Na ja …«, ich wollte nur noch weg, »wer war denn das?«
Er sah mich nur an.
»Und ich habe auch ein Foto in deiner Tasche gefunden, und du fährst immer viel mehr als du sagst, und in deinem Kamm sind fremde Haare … und du tust nur so, als ob du liest … So…«
»Und sonst noch was?«
Ich schüttelte den Kopf. Seltsamerweise hätte ich mir gewünscht, von ihm getröstet zu werden.
Und dann sagte er: »Weißt du was?«
»Nein, was denn?«
Es dauerte ewig, bis er weitersprach. Ich hatte ihm nie zuvor so lange direkt in die Augen gesehen, diese ungleichen Augen.
»Es gibt Dinge, die du tust, die mich nichts angehen, und es gibt Dinge, die ich tue, die dich nichts angehen.«
Er senkte den Blick und las weiter.
Diesen Satz habe ich monatelang als schlimme Kränkung mit mir herumgetragen, und erst später wurde mir klar, dass auch mir dieser Vatersatz große Freiheiten gab, die es zu nutzen galt.
Franco
Mindestens ein Mal pro Monat klingelte unser Telefon und eine südländisch erregte Männerstimmer verlangte »Susanna, Susanna, Susanna!« zu sprechen. Schon auf dem Weg zum Hörer ging etwas mit meiner Mutter vor, das meine Brüder und mich jedes Mal aufs Neue erstaunte. Schritt für Schritt verjüngte sie sich und warf, das tat sie sonst nie, ihr
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