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Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Titel: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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das, was man halt so in Laramie tat: Ich spielte Basketball, lernte, wie man einen Fooball wirft und wie man einen Riesen-Truthahn tranchiert. Ich schaufelte Unmengen von Schnee, lernte auf einer Whirlpool-Party ein Mädchen kennen und unternahm stundenlange Ausritte in die Prärie. Ich besuchte ein Gefängnis, fand dort einen Brieffreund und machte lange Reisen mit meinen Gasteltern. Als ich die USA verließ und nach Schleswig zurückkehrte, wog ich fünfundneunzig Kilo, schaffte hundert Liegestütze und sprach fließend Englisch.
    Bei dem Autounfall war nicht nur mein Bruder ums Leben gekommen. Auch seine Freundin, mit der er auf der Rückbank saß, starb noch an der Unfallstelle. Ein Lastwagen hatte hinter einer Hügelkuppe gehalten, um mitten in der Nacht zwei Anhalterinnen aussteigen zu lassen. Er hatte sogar das Licht ausgeschaltet. Der Wagen schleuderte unter den Laster. Der Fahrer war der beste Freund meines Bruders. Er blieb unverletzt.
    Meine Mutter und mein Vater waren durch den Unfalltod meines mittleren Bruders zu anderen Menschen geworden. Obwohl beide wieder arbeiteten, obwohl beide in ihrem Kummer füreinander da waren, obwohl wir zusammen aßen, zu dritt vor dem Fernseher saßen und Spaziergänge machten – es war die Simulation einer vergangenen Zeit. Für mich sah es so aus, als versuchten sie sich daran zu erinnern, wer sie waren und wie das Leben ausgesehen hatte, das sie einst führten. Die Hoffnung war wohl die, dass in das mühsam aufrechterhaltene Gerüst der alltäglichen Handlungen nach und nach das tatsächliche Leben wieder hineinwachsen würde. So lebte ich, da mein ältester Bruder in München studierte, als letztes verbliebenes Kind mit meinen Eltern in unserem Haus inmitten der Psychiatrie.

Auferstehung
    Eine erste Unternehmung, zu der ich nach meiner Rückkehr aufbrach, war ein Rundgang über das Anstaltsgelände. Ich hatte mich darauf gefreut und war gespannt, ob sich etwas während meiner einjährigen Abwesenheit verändert hatte. Während ich auf den altbekannten Wegen, an den vertrauten Gebäuden und eingezäunten Gärten, in denen wie eh und je die Patienten herumlagen, entlang- und vorbeiwanderte, wurde mir immer eigenartiger zumute. Ohne zu verstehen, was mich irritierte, wurde ich mir zunehmend sicherer: Etwas an diesem Ort hatte sich grundlegend gewandelt. Mir kam es so vor, als würde etwas fehlen, als hätte jemand etwas gestohlen. Aber was?
    Auf der langen Geraden, die zum Haupttor führte, kam mir der sogenannte Trupp entgegen, und schon von Weitem erkannte ich einige der Patienten an Gang und Körperhaltung wieder. Sie kamen auf mich zu, ich trat zur Seite, sie passierten mich, einige grüßten und schritten vorbei. Ich sah ihnen nach.
    Ich ging um Haus L herum und sah Ferdinand, den Prinzen auf der Erbse, auf einer Bank sitzen. Unter sich ein rotes Kissen, da er es gerne weich hatte. Neben ihm saß ein Junge, den ich nicht kannte. Er hatte einen enormen Kopf, keine Haare, aber seine Augen, der Mund und die Nase lagen in der Mitte des fleischigen Gesichts ganz eng beieinander, hätten auch auf einem Bierdeckel Platz gehabt. Ich freute mich und rief: »Ferdinand!« Er sah zu mir herüber und öffnete seinen Mund, langsam klappte sein Kiefer hinunter, während sich seine Augen weiteten.
    Ich war fast bei der Bank angekommen und sah Ferdinand in sein vom Schreck verzerrtes Gesicht. Er war älter geworden, ein gut aussehender junger Mann. In seinem Hemd und dem Pullunder sah er ein wenig aus wie ein englischer Internatszögling. Mein Anblick schien ihn zu peinigen.
    »He, Ferdinand, schön dich zu sehen!« Die winzigen Pupillen in den Äuglein des Jungen neben ihm flogen in ihren Höhlen unabhängig voneinander hin und her. So ein seltsames Gesicht hatte ich selten gesehen. Die Augenwinkel berührten sich fast, und es hätte mich nicht gewundert, wenn plötzlich die eine Pupille ins andere Auge hinübergeflutscht wäre. Sein Mündchen war nicht größer als eine saftige Kirsche und auch das Näschen klitzeklein wie bei einem edlen Hündchen. Alles ganz winzig, eng beieinander in diesem rosigen Riesenschädel.
    Ferdinand war blass geworden. Sogar seine Hände waren weiß. Jetzt war ich nur noch einen Schritt von ihm entfernt: »Was ist denn los, Ferdinand?« Sein Anblick fing an, mich zu beunruhigen. Würde er gleich ohnmächtig umkippen, sich auf mich stürzen oder die Flucht ergreifen? Langsam erhob er sich und sah mich fassungslos an. In seinem weit offen stehenden Mund

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