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Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Titel: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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ein hohes Alter zu erreichen, wie vor der Erkrankung.
    Mein Vater und meine Mutter hielten es nur noch schwer miteinander aus. Kein Kind mehr zu Hause, kein Hund. Die Sorgen meines Vaters, die Ängste meiner Mutter. Und dann passierte es. Mein Vater hatte wieder einmal eine Frau kennengelernt – und zog zu ihr. Sie hatte zwei kleine Kinder und lebte in Lübeck.
    Meine Mutter blieb noch eine Zeit lang in unserem Haus, doch dann ging sie nach Italien, fand eine schöne Arbeit in einem Krankenhaus am Lago Maggiore und versuchte, ein neues Leben zu beginnen.
    Was all die Jahre, aus welchen Gründen auch immer, unmöglich schien, war nun doch noch wahr geworden: Meine Eltern hatten sich getrennt. Wenn ich meinen Vater in Lübeck anrief, hörte ich Kinder im Hintergrund. Wenn ich meine Mutter anrief, saß sie auf dem Balkon, hoch über dem See, und genoss den warmen Abend. Unser Haus inmitten der Psychiatrie stand leer. Es gab erste Pläne, es zu einer Station zu machen. Betreutes Wohnen.
    Doch dann wurde mein Vater wieder krank. Es begann mit Schmerzen im Bein. Die erste Operation war nur ein Jahr her. Doch die Untersuchung ließ keinen Zweifel. Meine Mutter rief mich an: »Weißt du, was mit ihm ist?« Ich fragte sofort, da ich die Panik in ihrer Stimmer hörte: »Hat er sich umgebracht?« »Nein«, sagte sie, »er muss wieder operiert werden.« Ich fragte: »Hat er dich angerufen?« Denn eigentlich dachte ich, dass sie keinen Kontakt mehr haben würden. »Ja«, sagte sie, »gleich nachdem er es erfahren hat.«
    Nur sechs Wochen später fand man winzige Schatten auf seiner Lunge. Mein Vater war verzweifelt. Er wusste genau, was das bedeutete. Was auf ihn zukommen würde. Es fiel ihm schwer, die mühsamen Behandlungen zu beginnen. Das Bein wurde operiert. Die Lunge bestrahlt. Wieder lag er im Krankenhaus. Sooft ich Zeit hatte, machte ich mich auf den Weg zu ihm. Er vermied es, dass ich die neue Frau und deren Kinder traf, was mir sehr recht war. Er versuchte, wieder zu arbeiten. Doch es ging nicht mehr. Seine Praxis zu räumen muss schrecklich gewesen sein. Da fing er schon an, Dinge zum letzten Mal zu tun. Er wohnte bei seiner neuen Familie, empfand sich aber immer mehr als eine Zumutung. Dieses gerade erst gefundene Leben war noch nicht bereit für seine Krankheit. Es war schwer mit den Kindern. Er traf eine bittere Entscheidung: Er zog zurück in unser Haus. Da hockte er dann: krank, allein, inmitten der Psychiatrie.
    Zwei Monate lang hatte ich meinen Vater nicht gesehen. Ich versuchte, als er die Haustür öffnete, mein Erschrecken darüber, wie sehr er sich verändert hatte, durch eine rasche Umarmung vor ihm zu verheimlichen. Er war noch dicker geworden. Aber seine Fülle hatte nicht mehr dieses drall Gesunde früherer Tage, da er, gleichzeitig hadernd und doch stolz, seinen Bauch vor sich herschob und nach einer arbeitsreichen Woche wie ein wohlgenährter Korken im Freibad auf dem Rücken trieb. Seine Korpulenz war kraftlos geworden. Die Krankheit, die Einsamkeit, die Perspektivlosigkeit hatten die Schwerkraft erhöht und seine Spannkraft verringert. Ich habe mich oft gefragt, warum dieser glatzköpfige, schlecht angezogene und dicke Mann Erfolg bei Frauen hatte. Ich glaube, es müssen seine Augen gewesen sein. Freundliche, blitzgescheite Augen, deren Strahlkraft er wie ein Zauberer regulieren konnte. Diese Augen konnten einen mit Zuversicht und Interesse überwältigen und in ihren Bann schlagen. Wenn er es wollte, hatte man nach einem Blick aus seinen Augen das sichere Gefühl, alles zu schaffen, was man sich vornahm, und unverwundbar zu sein. Die letzten Monate hatten diesen Vateraugen nicht gutgetan. Sein Gottfried-Benn-Auge hing so schlaff, so unlyrisch herunter wie noch nie. Sein Schnauzer hatte sein fieses, aber doch prägnantes Gelb verloren und war grau geworden. Seine letzten Haare trug er im Nacken sehr kurz, und der akkurat frisierte Rest lag kümmerlich oberhalb des geschwollenen und farblosen Gesichts wie der verwelkte Lorbeerkranz eines abgedankten Prinzipals.
    Seit einem halben Jahr wohnte er nun schon allein in unserem Haus und hatte sich mehr schlecht als recht wieder dort eingerichtet. Wir umarmten uns lange, und als er mich ansah, schwammen seine Augen in aufsteigenden Tränen. »Komm rein. Hast du Hunger?« Ich stellte meine Tasche in den Flur und sah die Hundeleine an der Heizung hängen. Obwohl der Hund schon viele Jahre tot war, hatte sie an ihrem Platz überdauert. Ich nahm sie vom

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