Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)
ein wenig ungehörig vor, dem Vogel so nahe zu kommen. So, als würde ich seine vielleicht ja doch nur momentan durch den Unfall ausgeschaltete Scheu missachten.
Mit einem Buntstift drehte mein mittlerer Bruder die Amsel herum. Die Krallenfüßchen von sich gestreckt, schon etwas steif, fiel sie lautlos auf den Amselrücken. »Ich glaube«, sagte er, »wir sollten uns auf eine Bestattung vorbereiten.« »Wollen wir nicht noch etwas warten? Vielleicht ist sie nur ohnmächtig.« »Ohnmächtig?« Mein Bruder stupste sie mit dem Stift an, schob sie auf dem Handtuch in die Ecke des Schuhkartons. »Klarer Fall von Exodus!« »Aber das war doch schon öfter so«, versuchte ich den Vogel vor diesem unwiderruflichen Urteil in Schutz zu nehmen, »dass die wie tot aussehen, es aber nicht sind. Bitte, lass uns noch ein klein wenig warten.« Mein Bruder spitzte Daumen und Zeigefinger und legte sie um das knorrige Beinchen der Amsel. »Was machst du?« »Ich prüfe ihren Puls!« Er schloss seine Augen, saß einfach nur da. »Nein, da ist nichts. Absolut tote Hose. Die muss unter die Erde, und zwar schnell, sonst fängt sie an zu müffeln.«
Gegen Mittag fand auf unserem Haustier-Friedhof die Beerdigung statt. Hier lagen bereits Zebrafinken und Zierfische meines älteren Bruders, ein ihm entlaufener, erst nach Wochen hinterm Schrank gefundener mumifizierter Gecko und mehrere Vögel, die das Amselschicksal teilten und gegen unsere Scheibe gedonnert waren.
Und natürlich Erwin Lindemann, der Wellensittich meines mittleren Bruders. Er hieß tatsächlich so: Erwin Lindemann. Wochenlang hatte mein Bruder versucht, ihm das Sprechen beizubringen, hatte sogar eine Endloskassette mit dem Satz: »Ich heiße Erwin Lindemann« aufgenommen. Mehrere Stunden lang musste sich das der arme grünblau gefiederte Erwin tagtäglich anhören. Irgendwann konnte er es einigermaßen. Es klang unheimlich. Der Wellensittich imitierte die Stimme meines Bruders, klang wie er. Er zwitscherte hell, und dann sprach es aus ihm: guttural, aber klar und deutlich, wie ein Bauchredner, ohne jede erkennbare Bewegung seines Schnabels. Mein Bruder führte ihn seinen Freunden vor, und sie krümmten ihre drahtigen Körper vor Lachen. Ich fand das immer etwas traurig, nichts anderes sagen zu können als den eigenen Namen, und dann auch noch dafür ausgelacht zu werden.
Wie das wohl bei über fünfzig Prozent aller Wellensittichtode in Gefangenschaft der Fall ist, so war es auch bei uns: Die Putzfrau war schuld. Frau Fick! Sie war es, die den Käfig hochgehoben und das Fenster offen gelassen hatte. Erwin flatterte davon, in einen sehr dunklen Novembertag hinein. Ihm muss schon nach wenigen Flugmetern klar geworden sein, dass er sehr, sehr weit weg von zu Hause war, eine Heimreise in wärmere Gefilde, selbst Luftlinie, ein hoffnungsloses Unterfangen war. Er flog nicht weit, nur bis hinauf in den Wipfel einer der Linden. Und hier wurde er sozusagen eins mit seinem Namen. Mein Bruder legte den Kopf in den Nacken und brüllte Richtung Baumkrone: »Erwin Lindemann, komm sofort runter!« In der hereinbrechenden Dunkelheit war nur noch ein Schimmer Grün, ein Hauch Blau zu erkennen. Mein Bruder sagte zu mir: »Sei mal still!«, obwohl ich nichts sagte. Ganz leise hörten wir ihn: »Ich heiße Erwin Lindemann. Ich heiße Erwin Lindemann. Ich heiße Erwin Lindemann …«
Mir kam es so vor, als würde mein Bruder, dem das Lachen gründlich vergangen war, neben mir stehen und gleichzeitig sein Gespenst oben im Baum jammern. Am nächsten Morgen war Erwin verschwunden. Aber eine Woche später fand meine Mutter seinen farbenprächtig zerfledderten Leichnam auf dem Rasen. Als sie mit ihm ins Haus kam, dachte ich zuerst, sie würde einen kleinen Strauß bunter Blumen in Händen halten.
Die Aufgaben bei unseren Tierbestattungen waren klar verteilt. Mein mittlerer Bruder hielt die Trauerreden, darauf war er abonniert, das war seine Passion. Ich durfte die auf ein Taschentuch gebetteten Toten tragen, und mein ältester Bruder bastelte die kleinen Holzkreuze. Immer wieder aufs Neue war ich überrascht von der Leichtigkeit der Tiere, die ich trug. Auch die Amsel wog fast nichts. Mir kam es vor, als hielte ich meine leeren Hände wie zum Betteln in die Luft. Für die Amsel hatte sich mein Bruder etwas ganz Besonderes ausgedacht. Er hatte sich trotz der ungewöhnlichen Hitze einen schwarzen Rollkragenpullover angezogen und sprach getragen: »Liebe Brüder, wir haben in letzter Zeit dem ein
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