Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)
meinen Kopf von der Glut weg und sah hinaus. Direkt vor der Glasschiebetür lag in der Morgensonne ein schwarz schillernder Vogel am Boden. Sein Schnabel leuchtete gelb-orange, auch er glühte. Es war exakt derselbe Farbton. Ich wandte meinen Blick zurück. Mein Vater sah mich an, und in seinen verschieden großen Augen war etwas, das mir gleichzeitig rätselhaft und vertraut war. Er öffnete den Mund, steckte den Finger hinein, schloss die Lippen um den glimmenden Lichtpunkt und zog den Finger blank geleckt wieder hinaus. Ich konnte nicht glauben, was ich da sah. Warum tat er das? War das ein Kunststück? Glut essen?
Der Hund bellte den leblosen Vogel an. Mein Vater stand auf. Der Stuhl ächzte. Alle Möbel taten das. Betten, Sofas, Stühle, Liegen. Beim Setzen und Aufstehen meines Vaters wurde geächzt. Und auch er selbst ächzte. Wenn er sich setzte, gab es immer diesen wackeligen Moment, da er seinem Gewicht nachzugeben schien und sich fallen ließ. Beim Aufstehen gab er gepresste Töne von sich, da dieses Aufrichten immer auch ein Sich-Hochwuchten war. Er trug schwer an sich.
Mein ältester Bruder hatte die Schiebetür geöffnet, meine Mutter hielt den Hund fest, und mein mittlerer Bruder beugte sich über den Vogel. Die Amsel hatte die Augen geschlossen und einen Flügel flach von sich gestreckt. »Ich glaube, die ist hin!«, war seine einfühlsame Diagnose. Auch ich ging hinaus. Selten warmer Morgen, die Terrassenplatten schon warm unter den Füßen. »Ist sie tot?«, fragte ich. Mein mittlerer Bruder, der wie mein Vater Arzt werden wollte, was die beiden in einer mich irritierenden medizinischen Zweisamkeit verband, stippte den Vogel mit der Zehenspitze an. »Berühr sie lieber nicht«, bat ihn mein Vater, beugte sich vor und sagte: »Wahrscheinlich hat sie sich das Genick gebrochen.« »Ja, sieht ganz nach einer Halswirbelfraktur aus«, fachsimpelte angeberisch mein Bruder, »vielleicht aber auch ein spinaler Schock!« »Nicht ganz, nicht ganz, Herr Kollege«, spielte mein Vater mit. »Ich hole einen Karton«, rief meine Mutter schon im Gehen, »wir können die da doch nicht einfach liegen lassen.« Schon beim vorsichtigen Hineinheben der Amsel in den mit einem Küchenhandtuch ausgeschlagenen Schuhkarton hatte ich das sichere Gefühl, dass sie gestorben war, den Weg zurück von den Scheintoten zu den Lebendigen nicht mehr finden würde. Ihre Leblosigkeit hatte etwas Endgültiges.
So hatte das feierliche Geburtstagsfrühstück voller Vorsätze und einer spektakulären Ankündigung – der große Klare aus dem Norden kommt – durch den Amselknall sein jähes Ende erlitten. Da ich mein Ei noch nicht gegessen hatte, setzte ich mich zurück an den Tisch. Mein Vater ließ sich in seinen Ohrensessel fallen und nahm sein Buch. Hielt es, wie es seine Gewohnheit war, sehr nah vor die Augen, wodurch sein Gesicht fast ganz verschwand. Für Stunden entzog er sich so unser aller Sicht, und nur seine Glatze ragte wie ein spiegelglatter Himmelskörper halb über den Horizont des Buchrandes. Meine Mutter deckte um mich herum den Tisch ab.
»He, ich bin doch noch gar nicht fertig!«, rief ich. »Warum geht ihr denn alle?« Sie strich mir mit der Hand über meine üppigen Locken: »Iss ruhig zu Ende, mein Lieber. Ich fang nur schon mal an.« Meine Brüder verschwanden in ihren Zimmern. Ich nahm das Ei aus dem mit verwaschenem Stoff bezogenen Körbchen. Klopfen oder köpfen? Ich war eindeutig für die Praxis der Ei-Exekution. Ich hub mein Messer in die Schale. Traf ungünstig, zu weit unten. Wäre es ein Mensch gewesen, ungefähr auf Höhe der Schulterblätter. Das Eigelb quoll hervor und rann über den Eierbecher. Und wieder: gelb-orange. Amselschnabel, Zigarettenglut, Eigelb: an diesem Tag hatten die verschiedensten Dinge denselben Farbton. Ich fragte mich, ob das so weitergehen würde, ob mir dieser vierzigste Geburtstag zu Ehren meines Vaters noch mehr farbliche Übereinstimmungen präsentieren würde. Gab es einen Zusammenhang? Einsam aß ich mein Ei, sinnierte über die von allen Seiten auf mich einstürmenden mysteriösen Zeichen nach und murmelte gelb-orangene Zaubersprüche.
Alle Vögel sind schon da
Mein mittlerer Bruder klatschte direkt vor meinen tagträumenden Augen in die Hände und weckte mich: »Komm mit.« Ich folgte ihm. Wir knieten uns vor den Karton mit der Amsel, der im kühlen Vorflur auf dem Boden stand. Nichts hatte sich verändert. Um ihre Augen herum trug sie zwei gelb-orangene Ringe. Mir kam es
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