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Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Titel: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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wusste, ich würde mit jedem Wort sofort wieder wütend und unglücklich werden. Es war eigentlich kein großer Unterschied für mich, etwas zu erleben oder zu erzählen. Ich schob mich näher an das Bein meines Vaters und vergrub meine Nase zwischen seinem Oberschenkel und dem Bettlaken. Ich hörte einen gedämpften Klopfer. Das war der Hund, der mit seinem bollerigen Kopf die Tür aufgestoßen hatte. Da roch ich ihn auch schon. Er presste seine kalte Nase an meinen Hals, und ich umarmte ihn.
    »Jetzt sag doch mal, was ist denn passiert?«, beharrte mein Vater. »Ach, es ist halt schiefgegangen.« »Also, da kann ich nur sagen, auch wenn ich die Marzipankartoffeln, aus welchem Grund auch immer, nicht bekommen habe, ich freue mich sehr über sie. Das ist eine großartige Idee. Vierzig Stück und selbst gemacht. Vielen Dank!« Ich nickte und kraulte den Hund. »Willst du noch eine Geschichte? Zauberer?« »Ich bin müde!«, gähnte ich. Mein Vater gab mir einen Kuss. »So, gute Nacht, mein Lieber. Schlaf gut, Josse.« Er ging zur Terrassentür, rüttelte an ihr, mehrmals, nahm den wedelnden Hund beim Halsband und ging. Die Zimmertür ließ er wie immer angelehnt. Er brach, das wusste ich, zu seinem allabendlichen Rundgang durch das Haus auf, bei dem er kontrollierte, ob alle Fenster, die beiden Haustüren und die Kellertür sicher verschlossen waren.
    Draußen war es noch immer nordisch hell. Selbst um zehn Uhr abends spiegelte sich die Sonne in den vom Lindenhonig klebrig überzogenen Blättern. Ich hörte die Patienten: Schreie. Ob Schmerzensschreie oder Glücksschreie, das war nicht so leicht zu unterscheiden. Jaulen, Stöhnen, lang gezogenes Wolfsgeheul, das ganze Spektrum menschlicher Laute. Spitze Schreie, Todesschreie, Jubelschreie. Gurgeln und Röhren, schwebende Wehklagen. Die Stimmen waren miteinander verwoben. Die Anstaltsgebäude hatten große Balkone, die aus Sicherheitsgründen mit Maschendraht gesichert waren. Wir nannten sie die Verrücktenvolieren. Von meinem Bett aus konnte ich sie sehen. Gleich hinter dem Türmchen des Krematoriums hingen sie wie eckige Waben an den Mauern der Gebäude. Einzelne Stimmen kannte ich, kannte ich von Beginn an, bevor ich überhaupt sprechen konnte. Ich soll als Baby nie geschrien haben. Das wundert mich nicht. Wozu auch, wenn das um einen herum, Nacht für Nacht, tausend andere tun. Wie Vögel am Morgen zu einer bestimmten Zeit zu singen beginnen, so schien auch das Abendgeschrei einer gewissen Logik zu folgen.
    Ich lag in meinem mit Margeriten verzierten Frotteeschlafanzug unter der flauschigen Bettdecke, hielt meinen von zig schlecht vernähten Bauchoperationen lädierten Affen im Arm und lauschte dem Zeter und Mordio. Anstaltsgesänge, untermalt von Klappern und Rütteln. Was war das? Der Wind? Dumpfes Schlagen gegen Wände? Köpfe? Gitterbett-Schütteln? Dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr, allabendliches Brüllkonzert mit großem Orchester. Ob Jungen oder Mädchen? Das war schwer zu unterscheiden. Manch eine vermeintlich weibliche Stimme grölte plötzlich in tönendem Bass, manch eindeutig männliche schraubte sich plötzlich hinauf und schrie im Sopran.
    Meine apokalyptischen Reiter waren zu fünft, galoppierten im Wind auf den Vokalen und umzingelten unser Haus. Das »Ahhh …« für gedehnte Schmerzen, langen Atem und lautstarken Aufruhr, das »Ehhh …« für gestautes Aufbäumen, zwischen den Zähnen, irgendwie störrisch, das »Iiiii …« meist kurz und geschleudert, meckernde Affen in üppigen Wipfeln, das »Ohhh …« für den Kummer und Eruptionen der Freude, und schließlich das »Uuuh …« geduldig im Hintergrund, resignierend, voll dunkler Kraft. Wie gut ich das alles kannte. Ich wusste genau, wer wem wie antworten würde. Von Bett zu Bett, von Station zu Station, selbst von Anstaltsgebäude zu Anstaltsgebäude gellten die Schreie. Präzise Einsätze, dirigiert von irgendeiner dunklen Macht. Einer alleine. Mehrmals. Dann zu zweit. Kleines Duett. Frage und Antwort. Dann stimmten andere mit ein. Dann ein Gespann. Dann eine Horde. Besonders beeindruckt hat mich immer die Länge der Rufe und dass ich nie jemanden hörte, dessen Stimme versagte. Wenn meine Mutter von der Chorprobe kam, krächzte sie heiser. Anderthalb Stunden Kantaten gaben ihren Stimmbändern den Rest. Das Atemvolumen der Patienten war enorm, ihre Schreitechnik perfekt.
    Es ist nicht oft warm bei uns in Schleswig. Die lauen, windstillen Sommerabende sind an einer Hand abzuzählen.

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