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Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Titel: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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außer am Montag, da war Rotary Club – mein Vater zu mir ins Kinderzimmer und öffnete meine Terrassentür. Es war noch hell draußen.
    Meine Brüder haben mich um diese Terrassentür immer beneidet. Als ich älter war, bin ich an fast jedem Freitag, nachdem mich meine Mutter auf den ihrer Meinung nach schlafenden Kopf geküsst hatte, wieder aufgestanden und durch diese Terrassentür hinaus in die Nacht entschwunden, um in eine zwanzig Kilometer entfernte Dorfdisco zu trampen. Wenn ich im Morgengrauen nach Hause kam, es selbst auf dem Psychiatriegelände still geworden war, schlich ich in unseren Keller, wusch mir dort, um nicht so nach Rauch zu stinken, heimlich im Gästezimmer die Haare. Das war herrlich: nach durchtanzter Nacht betrunkenes Haarewaschen im Keller.
    Mein Vater öffnete die Terrassentür, trat einen Schritt hinaus ins Freie, leckte an seinem Zeigefinger und hielt ihn seemännisch in den Wind. Ich lag im Bett, roch die frische Luft und stellte wie immer dieselbe Frage, rief zu ihm nach draußen: »Woher kommt er?« Mein Vater rief: »Norden!« Jeder Wind erzählte ihm eine andere Geschichte. Es gab den schwedischen Wind, den englischen Wind, den russischen Wind und einen seltenen Wüstenwind. Die Windstärke spielte eine große Rolle. Je stärker der Wind, desto kürzer war es her, dass er über dem Meer gewesen war. Mein Vater kam zurück in mein Zimmer, setzte sich auf meine Bettkante, und wir errechneten die Reisezeit der Windböe, die wir kurz zuvor in den hohen Linden vorm Haus gehört hatten. Bei Orkan waren es nur zehn Minuten von der Küste bis zu uns. Ich roch das Salz in der Luft. Und das Rauschen der Linden klang wie das Rauschen der Brandung.
    Eine Geschichte, die mein Vater bei Nordwind immer und immer wieder erzählte, war die eines Zwergs, der sein trostloses Dasein bei einem bösen Zauberer fristete. Tagsüber musste der Zwerg bei Wind und Wetter auf einem umgedrehten Eimer nackt vorm Schloss stehen, damit er hohes Fieber bekam. Nachts durfte er zum Zauberer ins Bett und musste ihm, glühend krank, die Füße wärmen. So etwas mochte mein Vater: ein Zwerg, der auf Leben und Tod als Wärmflasche arbeitet. Kam der Wind aus einer Zwischenrichtung, vermischten sich die Geschichten. Wenn mein Vater nicht mehr weiterwusste, nahm er mich auf den Arm und ging mit mir zusammen hinaus auf die Terrasse, um dem Wind zu lauschen. Dabei machte er: »Aha. Verstehe, aha«, tat so, als würde er mit der Luft telefonieren. Ich flüsterte in sein Ohr: »Was sagt dir der Wind?« Er trug mich zurück ins Bett, erzählte zu Ende, zog die Vorhänge zu, löschte mein Licht und küsste mich auf den Kopf.
    Es war keine Seltenheit, wenn mitten in der Nacht das Diensttelefon klingelte. Dann rannte mein Vater im wehenden Arztkittel wie ein Gespenst hektisch den Flur auf und ab, verließ das Haus, und sein Schatten flog an meinem Fenster vorbei. Das war für mich vollkommen normal. Ich freute mich, das Telefon zu hören, denn am Morgen würde er beim Frühstück erzählen, was geschehen war. Meistens hatte jemand einen schlimmen Anfall, war abgehauen, über die Mauer auf und davon, oder ein Pfleger war verletzt worden. Beunruhigender war es, wenn die Psychiatriesirene losheulte. Das hieß, es brennt. Angezündete Matratze oder Mülleimer. Seltsam, aber letztlich hat mich auch das nicht sonderlich geschockt. Mein Vater würde es schon richten. Da war ich mir sicher. Er war der Direktor. Wer, wenn nicht er, musste wissen, wie das geht.
    Als mein Vater an diesem Abend zu mir in mein Zimmer kam und sich zu mir setzte, sagte er: »Das war wirklich ein schöner Geburtstag. Vielen Dank für den tollen Untersetzer!« Ich sah ihn im Dämmerschein meiner Nachttischlampe an. »Jetzt habe ich glaube ich vier. Nächstes Jahr fünf und dann hat jeder einen. Dann können wir ein richtiges Fest feiern.« »Ich hatte eigentlich was ganz anderes für dich.« Ich wusste nicht, ob meine Mutter ihn über das Marzipankartoffel-Desaster informiert hatte. »Wirklich, was denn? Jetzt hast du mich aber neugierig gemacht. Was wolltest du mir schenken?« »Ach, nichts Besonderes. Marzipankartoffeln.« »Oh, da hätte ich mich aber sehr gefreut. Ich liebe Marzipankartoffeln!« »Ich hab die selber gemacht. Vierzig Stück. Für jedes Jahr eine.« »Das glaub ich nicht. Das ist doch furchtbar schwer, die zu machen. Wo sind die denn? Ich will die jetzt alle essen!« »Egal«, sagte ich leise. Ich wollte die Geschichte nicht erzählen, da ich

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