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Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Titel: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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das auch »Die Wüste« hieß.
    Oft saß ich auf dem Sofa und las, während mein Vater in seinem Sessel schauderhafte Bilder vom sogenannten »Aufbrechen« von Wildschweinen studierte, in der »Wüste«. Durch diese keineswegs für Kinder herausgegebene Zeitschrift wusste ich Dinge über die Wüste, die sonst nur echte Wüstenspezialisten wissen. Auch mit Skorpionen kannte ich mich inzwischen blendend aus und konnte zig verschiedene Arten unterscheiden. Unter mehreren meiner zu dieser Zeit in der Grundschule geschriebenen Aufsätze stand: »Bitte schreib doch mal über das gewünschte Thema und nicht immer über die Wüste.« Mir war es egal. Selbst wenn es um Kinder im Straßenverkehr ging, ich landete in der Wüste. Das ging so: »Mein Schulweg ist nicht besonders lang, die Kinder der Beduinen allerdings brauchen oft Tage, bis sie ihre Schule erreichen.« Zack, schon war ich in der Wüste.
    Um dünner zu werden, hatte sich mein Vater für eine Steakdiät entschieden. Während wir weiterhin unsere Lieblingsinnereien aßen, wurde für meinen Vater jeden Mittag ein großes Steak gebraten, sonst nichts. Anstelle der Nachtmahlzeit aß er Gurken, und mit dem Rauchen hatte er tatsächlich aufgehört. Nachdem wir die Bücher besorgt hatten, gingen mein Vater und ich gemeinsam in das einzige Sportgeschäft unserer Stadt. Er kaufte sich eine Turnhose, eine Trainingsjacke und ein Paar Laufschuhe. Er hatte immer behauptet, dass er Schuhgröße dreiundvierzig habe. Der Verkäufer drückte auf die Schuhspitze und schüttelte den Kopf. Selbst vierundvierzig war noch zu klein. Mein Vater kaufte die Fünfundvierziger nur unter den Beteuerungen des Verkäufers, Laufschuhe würden extrem klein ausfallen. Er behielt sie gleich an, um sie, wie er das in seinen Büchern gelesen hatte, einzulaufen.
    »Weißt du, was ich glaube?«, sagte er zu mir, als wir beim »Kochlöffel«, unserem Lieblingsgrill, saßen. »Ich glaube, das sind die ersten passenden Schuhe, die ich mir jemals gekauft habe. Keine Ahnung warum! Aber ich dachte bis heute, Schuhe müssten leicht drücken. Ich dachte, nur ein leicht drückender Schuh ist ein passender Schuh. Was denkst du, könnte der Grund dafür sein, dass dein Vater immer zu kleine Schuhe trägt?« Ich antwortete ihm damals, und ich weiß es deshalb noch so genau, weil meinem Vater die Antwort gefiel und er sie mir oft wiederholt hat: »Wenn dir die Schuhe richtig gut passen würden, würdest du sehr bald vergessen, dass du sie anhast. Da sie dir aber so gut gefallen, willst du immer daran erinnert werden, dass du sie trägst. Dadurch, dass der Schuh drückt, verhindert er, in Vergessenheit zu geraten.« »Schlaue Antwort!«, sagte er, »ja, das finde ich auch. Es gibt einen Zusammenhang zwischen Bequemlichkeit und Vergesslichkeit.«
    Am nächsten Sonntag begann mein Vater mit dem Lauftraining. Direkt gegenüber dem Psychiatriegelände, nur durch eine Straße von der Anstalt getrennt, lag der Wald. Mein Vater hüpfte auf der Terrasse auf der Stelle, machte Dehnübungen, und meine Brüder und ich standen hinter der großen Scheibe und sahen ihm erstaunt dabei zu. Keiner von uns durfte mit. Darauf hatte er bestanden. »Ich werde mich vor den Augen meiner gut gebauten, durchtrainierten Söhne nicht zum Vollidioten machen.«
    Er winkte uns zu. »Na, mal sehen, ob er das überlebt«, sagte mein ältester Bruder. Ich sah meinem Vater nach. Von hinten sah er schlank aus. Er hatte dünne Beine, einen kleinen Po, war groß. Er war genau genommen nur vorne dick, frontfett sozusagen. Ich lief ihm nach und begleitete ihn bis zur Straße. Mein Vater brauchte stets ewig, um eine Straße zu überqueren, da er erst losging, wenn die Autos noch so weit entfernt waren, dass man sie kaum sehen konnte. Er war schlecht im Abschätzen von Geschwindigkeiten. Oft stand ich mit ihm an der verlassenen Straße, und obwohl es still war, sah er mehrmals nach rechts und links, nahm meine Hand und sagte: »Ja, ich glaube, jetzt geht’s.« Und dann ging er, mich sehr fest haltend, zügig hinüber.
    Auch an diesem Sonntagmorgen stand er in seinen neuen Sportsachen lange an der kaum befahrenen Hauptstraße, eilte schließlich hinüber und verschwand im Wald. Ich ging zurück, setzte mich auf den braunen Teppichboden und las in der »Wüste«. Etwas über geschmolzene Blitze. Da stand tatsächlich, dass ein Blitz, wenn er in Sand einer bestimmten mineralischen Zusammensetzung einschlägt, mehrere Meter tief eindringt und diesen zum

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