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Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Titel: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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verständnislos an. »Was ist denn passiert, mein Lieber?« Ich schnappte mir die Schüssel und hielt sie ihr hin: »Waaaaaaass?« Sie schüttelte den Kopf. Sie konnte sich doch sicher sein, mich zu kennen, aber dieser blondgelockte Junge mit der Schale in der Hand, der immer nur »Waaaaaaasss?« schrie, war ihr ein Rätsel. »Die sind doch toll geworden!«, rief sie. Eine Oktave höher kreischte ich: »Daaaas wooollte iiich maaachen!«, und dann noch mal lang gezogen und schmerzerfüllt: »Waaaaaas!«
    Ich griff in die Schüssel und matschte die Kartoffeln zusammen. Meine Mutter sah mich unwillig an: »Was machst du denn? Die waren doch gut so! Also wirklich. Ist doch nicht so schlimm!« Mit dem Klumpen in den Händen rannte ich ins Badezimmer zurück, schloss mich ein und begann, ihn abzuwaschen. Wie konnte sie das nur tun? Auf nichts hatte ich mich so sehr gefreut wie darauf, meine vierzig Geschenke einzeln im Kakaopulver zu wenden. Das sollte doch der Höhepunkt meiner Sorgfalt werden. Ja, genau! Darauf war ich doch so stolz: dass ich etwas sorgfältig machte. Das war das eigentliche Geschenk. Ich, der immer als fahrig und unkonzentriert galt, ich, der kein Buch zu Ende las, keine längeren Unterhaltungen führen konnte, ohne ins Weite davonzuzappeln, der in der Schule von dreißig Minuten still sitzen hysterisch wurde, der bei jeder Gelegenheit in Tagträume abglitt, ich wollte meinem Vater zum vierzigsten Geburtstag vierzig selbst mit Kakaopulver bepuderte Kugeln Sorgfalt schenken. Ein bestäubtes Versprechen an die Zukunft! Und das alles hatte meine Mutter mit ihrem vorauseilenden Hilfsgehorsam zunichtegemacht.
    Aber das Drama sollte sich noch steigern. Unter warmem Wasser wusch ich den süßen Klumpen ab. Es roch immer und immer stärker nach Marzipan. Genauso hatte ich mir den Duft in meiner eigenen Manufaktur vorgestellt. Es klopfte an der Tür, meine Mutter drückte die Klinke. Sie sprach mit zwei Stimmen. Die eine tröstete und sagte: »Komm doch bitte raus. Es tut mir leid. Ich wusste doch nicht, dass du das unbedingt selber machen wolltest.« Die andere Stimme aber ärgerte sich über mich und mahnte: »Jetzt komm mal raus. Darüber kann man sich doch nicht so aufregen. Du führst dich ja auf, als wäre sonst was passiert.« Und während mir die Tränen kamen, löste sich im heißer werdenden Wasser der Marzipanklumpen auf, wurde kleiner und kleiner, rann mir durch die Finger und verschwand gurgelnd im Abfluss. Ich versuchte ihn zu halten, neu zu formen. Aber es war nur noch ein sämiger Brei und schließlich cremige Marzipansuppe. Der Ausguss rülpste, stieß mandelbitter auf und würgte den letzten Schluck hinunter.
    Noch einen Augenblick betrauerte ich den vierzigfachen Verlust, doch dann kam der Zorn. Eine heiße Welle aus den Füßen und ein Schwall von Rachegedanken. Ich sah Fäuste und Blut, hob den Kopf und stand plötzlich meinem Spiegelbild gegenüber. Dass ich so wild aussehen konnte, war mir nicht klar gewesen. Meine geröteten Augen starrten mich bitterböse an, die Unterlippe bibberte. Ich war fasziniert von diesem mir unbekannten, enthemmten, teuflisch dreinschauenden Jungen. Ich ließ mich nicht aus den Augen.
    Meine Mutter klopfte und rief: »Es tut mir leid. Ich wollte dir wirklich nur einen Gefallen tun!« Mit hoher, wie vom Kreidefressen aufgehellter Stimme rief ich: »Nicht so schlimm! Ich komm gleich!« Diese Tonlage passte absolut nicht zu meinem Zorngesicht. Aber genau darin lag eine seltsame Lust. »Bist du sicher?«, fragte meine Mutter. »Jaha, bin ich, Mama. Alles wieder gut.« Ihr Mund musste ganz nah an der Tür sein, denn sie sprach nicht laut: »Komm doch bitte wieder raus.« In meinen Mundwinkeln hatte sich ein wenig Speichelschaum gebildet. Ich leckte ihn nicht ab, ließ ihn über mein Kinn rinnen. »Wirklich, Mama. Ich komm gleich!«, säuselte ich mit glockenheller Knabenstimme und starrte dabei diesem außer Kontrolle geratenen, sabbernden Wesen in die blutunterlaufenen Augen.
    Meine Mutter ging. Ich öffnete die Lippen so weit ich konnte, biss die Zähne zusammen und knurrte mich an. Nur mit viel, viel kaltem Wasser gelang es mir, die Hassfratze abzuwaschen. Aber dass ich mich so gesehen hatte, machte mich neugierig und ängstlich zugleich. Wo kommt dieses zweite Gesicht her, fragte ich mich, und ob es vielleicht sogar mein echteres sei? Hatte ich mich eben zum ersten Mal wirklich gesehen?

Sehnsucht nach Schreien
    Kurz vor dem Einschlafen kam wie jeden Abend –

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