Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)
Höchstens vier-, fünfmal im Jahr saßen wir noch um zehn Uhr auf der Terrasse. Mein Vater gab diesen Abenden Namen, so selten sind sie gewesen, wie tropischen Wirbelstürmen: die warme Marie, die lauschige Anna, der leicht klamme Anton.
Nächte mit Namen. Das kannte ich gut. An diesen seltenen Abenden eskalierten die Gesänge, steigerten sich zu ohrenbetäubendem Gebrüll. Eine festliche Hysterie, verborgene Begierde, Rastlosigkeit des Blutes oder eben doch ein Wissen um das Grauenhafte, Ausweglose der eigenen Situation brachen heraus, feuerten sich gegenseitig an, bis tief in die sommerliche Nacht, bis hin zur totalen Erschöpfung. Ich liebte dieses Gebrüll, diese Partitur nächtlicher Stimmen. Mühte mich, wach zu bleiben, nicht wegzudämmern. Wie sich das türmte und bäumte! Anschwoll und verhallte! Echos in den Anstaltsschluchten. Ich hörte das gerne. Ich schlief gerne dabei ein. Konnte sogar am allerbesten genau dabei einschlafen. Meine beiden älteren Brüder, meine Eltern schlossen trotz der Wärme mit Seltenheitswert ihre Fenster. Der Hund wurde unruhig, bellte, verkroch sich hinter dem Sessel. Mein Fenster aber musste offen bleiben. Ich lag da und lauschte den Schreien. Auch durfte meine Zimmertür nie ganz geschlossen sein. Das Flurlicht musste anbleiben. Der schmale Lichtstreif fiel genau über das Ende meines Bettes. In diesen Lichtstreifen hinein legte ich meinen Fuß. Etwas von mir sollte im Hellen bleiben. Der nackte Fuß sollte wach bleiben und mich beschützen. Auf dem Flur, im Türspalt, im Anschnitt, die bügelnde Mutter, das Bett frisch bezogen, das Fenster gekippt und die Abendflaute erfüllt vom infernalischen Konzert der Patienten: Das war perfekt. Schlief ich woanders, bei meinen Großeltern in München, bekam ich schreckliches Heimweh. Die Stille setzte mir zu. Ich hasste es, mein Blut im Kopfkissen rauschen zu hören, wie eine für die Ewigkeit präparierte Mumie in der Dunkelheit zu stecken. Da hatte ich dann Sehnsucht nach Schreien, nach dem beruhigenden Gebrüll der Kranken.
Die Sportverletzung
Mein Vater und ich gingen gemeinsam in die Stadt. Er kaufte sich mehrere Bücher, um zum Fachmann seiner eigenen Vorsätze zu werden. Bücher über Raucherentwöhnung, über unterschiedlichste Diätformen und über das Laufen. Schon immer hatte mein Vater, sobald ihn ein Thema interessierte, sich dieses durch Bücher angeeignet. Plötzlich las er alles über Jäger. Monatelang studierte er Jagdbücher, kannte den Unterschied zwischen Vorstehhunden, Stöberhunden, Erdhunden, Schweißhunden, Laufhunden und Apportierhunden. Und als wir auf einem unserer Spaziergänge einen Jäger trafen, blühte dieser anfänglich wortkarge Mann dank der kompetenten Fragen meines Vaters regelrecht auf. Nach zehn Minuten unterhielten sie sich wie zwei uralte Jägerfreunde über die Wiesel-Wippbrettfalle.
Mein Vater war ein an seinen Sessel gefesselter Bildungsnomade, graste mit seinem Was-ich-einmal-lese-vergesse-ich-nie-wieder-Verstand Wissensgebiet für Wissensgebiet ab und wurde zum übergewichtigen Universallexikon. Nie wieder habe ich einen Menschen gesehen, der sich mit solch einem unstillbaren Heißhunger in Bücher hineinfraß. Erst wenn er auch die letzte Information aus einem Thema herausgesogen hatte, wandte er sich gesättigt ab. Leicht erschöpft saß er dann in seinem Sessel, und die unzähligen Bücher lagen aufgeschlagen, aufgeblättert wie leer gelesen auf dem Teppich um ihn herum.
Er hatte die unterschiedlichsten Zeitungen abonniert. Und selbst wenn ihn das Interesse daran schon lange wieder verlassen hatte, wurden diese Fachzeitungen weiterhin geliefert. Neben dem Lokalblatt und der kompletten überregionalen Presse bekamen wir jahrelang »Die Biene«, eine Imkerzeitung, »Fisch und Fang«, eine Anglerzeitung, und »Der deutsche Landwirt«, für dessen rustikale Kontaktanzeigen sich mein Vater sehr begeistern konnte. An unserem Kühlschrank klebte eine von ihnen: »Bauer sucht Frau, die noch mit der Hand melken kann und wenig Schlaf braucht«. So was gefiel meinem Vater sehr. Sein Lieblingsgeschenk an uns Kinder waren Zeitschriftenabos. Mein ältester Bruder bekam »Aquaristik heute«, mein mittlerer Bruder bekam ein Hundemagazin, dessen Namen ich nicht mehr genau weiß. Ich meine, mich an den Titel zu erinnern: »Sitz, Platz, Fass« – aber kann das stimmen? Meine Mutter bekam von ihm zum Hochzeitstag »Kraut und Rüben«, ein Gartenmagazin, und ich bekam ein Fachblatt über die Wüste,
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