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Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Titel: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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Schmelzen bringt, sodass man ihn dann vorsichtig ausgraben kann. Einen bis zu fünf Meter langen, gezackten, höchst fragilen Kristallblitz. Das waren so die Berufe, die mich magisch anzogen: in der Wüste Blitze ausgraben oder, auch das hatte ich gelesen, Fata Morganas fotografieren.
    Ich wollte meinem Vater, sobald er zurückkommen würde, als Erster entgegenlaufen. Nach einer halben Stunde fragte meine Mutter zum ersten Mal nach ihm. »Ich glaube nicht, dass man gleich so lange laufen sollte.« Nach einer Dreiviertelstunde kam mein mittlerer Bruder: »Wo bleibt er bloß?«
    Nach einer Stunde beschlossen wir, nach ihm zu suchen. Wir nahmen den Hund mit, und mein ältester Bruder hielt ihm eine Socke meines Vaters vor die Schnauze und befahl: »Such, na such!«, woraufhin ihm meine Mutter die Socke aus der Hand riss und seltsam gereizt »Hör doch auf!« sagte. Wir liefen über die Straße und in den Wald hinein. Nachdem wir ein wenig auf verschlungenen Waldpfaden gegangen waren, kamen wir zu einem geraden, auf das Schloss zuführenden Hauptweg. Mein Vater saß gute dreihundert Meter entfernt, rechts am Weg auf einer Bank. Zusammengesunken, mit hängendem Kopf. Meine Brüder und ich rannten los, der Hund hinterher. Die Hände meines Vaters waren dreckig, auch sein eines Knie. Der Hund leckte ihm Blut vom Schienbein. Mein Vater sah auf. Leise sagte er: »So ein Mist!« »Was ist denn passiert?«, fragte ich. »Ich bin umgeknickt und hingefallen.« Meine Mutter kam, sah ihn kurz nachdenklich an und strich ihm über den Kopf. Wir halfen ihm auf.
    »Ich bin so gut losgelaufen. Ich war so überrascht, dass ich überhaupt laufen kann. Ich bin ja seit Jahren nur noch gegangen, nie gelaufen. Ich wollte nur einmal den langen Weg hier runterlaufen. Mehr wollte ich doch gar nicht. Und weil es so gut ging, dachte ich, ich mach einen kleinen Endspurt. Die letzten zehn Meter etwas schneller. Das soll man ruhig machen. Nicht so schnell man kann natürlich, aber so eine sanfte Endbeschleunigung steigert den Trainingseffekt. Da sind sich die Laufexperten einig. Und dann kam die Stelle, wo der Weg diese Ausspülung hat, wisst ihr, vom Regenwasser. Und da wollte ich rüberspringen. Und ich war wirklich für einen Moment in der Luft. Aber dann bin ich direkt in der Rille gelandet und umgeknickt. Ich hab es im Fuß krachen gehört. Ist bestimmt gerissen. Bin nicht mehr hochgekommen. Und wisst ihr, wer mir geholfen hat? Eine ältere Dame. Die hatte einen Gehstock. An dem musste ich mich festhalten! Die hat mich hochgezogen.« Auf dem Heimweg mussten wir oft Pausen machen. Mein Vater bat mich, ihm den Schuh und die Socke auszuziehen. Sein Fußgelenk sah schlimm aus, blau geschwollen. Mein mittlerer Bruder sagte, und er suchte stets nach der etwas besonderen Formulierung, wodurch er leicht blasiert klingen konnte: »Dein Fußgelenk hat etwas Auberginenhaftes.« »Erzählt das bitte nicht weiter«, bat er uns, »ja? Wie wär’s, wenn das unser kleines Geheimnis bleibt?«
    In den folgenden Wochen las er weiterhin in seinen Laufbüchern. Mit hochgelagertem Bein erläuterte er uns Trainingspläne für den Wiedereinstieg nach Sportverletzungen. Ja, er nannte seinen Bänderanriss stolz seine »Sportverletzung«. Er kaufte sich Bücher über die Geschichte des Marathons und erzählte mir Laufgeschichten von Paavo Nurmi und Emil Zatopek, der Lokomotive aus Prag. Mit seiner Steakdiät hatte er mehr Erfolg. Für ein paar Jahre wog er so um die fünfundneunzig Kilo und rauchte bis zu einem denkwürdigen Ereignis auch keine einzige Zigarette mehr. Aber die so gut passenden Laufschuhe, die in ihrem kurzen Laufschuhleben nicht mehr als dreihundert Meter gelaufen waren, zog er nie wieder an.

Der Glöckner
    Unter den vielen Patienten, die sich frei auf dem Anstaltsgelände bewegen durften, gab es nur einen einzigen, vor dem ich richtig Angst hatte. Er wurde »Der Glöckner« genannt und galt als vollkommen harmlos. Er war bestimmt schon Ende zwanzig und hätte längst in die Erwachsenen-Psychiatrie verlegt werden müssen. Da er aber schon kurz nach seiner Geburt auf den Hesterberg gekommen war, sein ganzes Leben innerhalb der Psychiatriemauern verbracht hatte, nach einem genauen Muster tagtäglich die Wege des Geländes abschritt, hatte man von einem Umzug nach Stadtfeld abgesehen. Alles an diesem Mann war dunkel. Sein Haar war wild und schwarz, kannte keine Frisur. Seine großen, unter der mächtigen Stirn wie unter einem Felsvorsprung im Schädel

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