Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)
meines Vaters aus und traute ihren Augen nicht. »Ein elektrisches Messer. Für Fleisch und Brot«, sagte mein Vater. Meine Mutter hielt wiegend ihr Geschenk in der Hand. Noch am selben Abend zerteilte sie mit diesem ratternden Messer den ungewaschenen Pansen für unseren Hund. Als mein Vater das sah, riss er ihr das Messer aus der Hand, rannte ins Weihnachtszimmer, warf wutentbrannt seinen Gabentisch um, hinter dem die Steckdose lag, und sägte ungeschickt in den Schuber der Gesamtausgabe Adalbert Stifters hinein, die meine Mutter ihm geschenkt hatte. Die Klinge fraß sich im Karton fest, mein Vater ließ das Messer stecken und rannte schwerfällig aus dem Zimmer. Ich hatte das alles aus dem großen Ohrensessel heraus beobachtet und war begeistert. Begeistert darüber, dass mein Vater in diesem Moment genau das tat, wovon ich nur träumte.
Später versöhnten sich meine Eltern, und wir spielten alle zusammen Trivial Pursuit. Mein Vater würfelte, wusste, egal ob Erdkunde, Kultur, Unterhaltung, Geschichte oder Wissenschaft, alles, und wir anderen kamen kein einziges Mal mehr dran. Emsig sammelte er die bunten Eckchen, bis sein Spielstein komplett war, spazierte in die Mitte, beantwortete auch noch die letzte Frage, stand auf, nahm sich eine ganze Handvoll Heidesand-Plätzchen und verabschiedete sich in seinen Ohrensessel.
Der Glöckner
Doch dann, von einem Tag auf den anderen, war der Glöckner plötzlich verschwunden. Auf meinem Schulweg hielt ich Ausschau nach ihm, horchte in die Schreie, den Wind hinein. Keine Glocken zu hören. Das Fehlen des Bimmelns beunruhigte mich. Tagelang versuchte ich, aus der ohnehin gewaltigen Geräuschkulisse ein Läuten herauszulauschen. Nichts.
Ich fragte meinen Vater nach dem Glöckner. Er reagierte seltsam verhalten, leicht verstimmt und sagte nur: »Der muss für einige Zeit auf seiner Station bleiben.« »Was ist denn mit ihm los?« »Nichts Besonderes.« »Darf ich ihn da mal besuchen?« Er schüttelte den Kopf und las weiter.
Ein paar Tage später erzählte mir einer der Männer des Essenswagens, dass der Glöckner einen Pfleger niedergeschlagen, mit einer seiner Glocken lebensgefährlich verletzt habe. Ich fragte nach, doch Genaueres wusste er nicht und schloss mit der lapidar ausgesprochenen Prognose: »Den werden wir so schnell nicht wiedersehen.« Wieder und wieder bohrte ich nach, aber mein Vater berief sich auf seine Schweigepflicht. Meine Brüder machten seltsame Andeutungen, dass der Glöckner ausgebrochen und wieder eingefangen worden sei. Oder sie behaupteten sogar, dass er gar nicht mehr am Leben sei.
Es gab niemanden, den ich fragen konnte. Alle Antwortenden schienen etwas geheim zu halten, mich mit etwas verschonen zu wollen. Ich belauschte ein Telefonat meines Vaters, in dem es um eine Verschärfung der Sicherheitsvorkehrungen ging, und mehrere Tage fehlte er beim Mittagessen, da er in Kiel im Ministerium war. Ich stellte mir immer abenteuerliche Szenarien vor. Sah den mit seinen Glocken um sich schlagenden Glöckner vor mir, sah, wie er mitleidlos immer wieder auf den Kopf eines blutüberströmten Pflegers einschlug, sah, wie er überwältigt wurde, man ihm die Glocken aus den Pranken entwand, wie er des Nachts aus einem Fenster krabbelte und durchs Dunkel davonstapfte. Ich stellte mir sogar vor, dass er mich besuchen, an meine Terrassentür pochen würde. Meine Gedanken kreisten nur noch um ihn in diesen Tagen.
Im nahe der Psychiatrie gelegenen Park gab es einen Teich. Dieser Teich hieß Spiegelteich. Ein Waldteich mit dunklem Wasser. Ich angelte dort im Sommer hin und wieder nach Stichlingen, kleinen Fischen mit prähistorischen Zacken auf dem Rücken. Da ich keine Angel hatte, band ich einen Wurm an einem Faden fest und ließ ihn ins Wasser. Die Stichlinge saugen sich am Wurm fest. Man brauchte einige Erfahrung und viel Geschicklichkeit, um sie genau im richtigen Augenblick aus dem Wasser zu katapultieren, und dann auch noch etwas Glück, um sie auf dem Waldboden wiederzufinden. Von zehn Fischen nur einer fürs Glas.
Im Sommer nach dem Verschwinden des Glöckners lag ich auf dem Bauch, den Kopf direkt über dem Wasser, und starrte auf den Wurm, dem sich ein Stichling vorsichtig näherte. Die Sonne schien, einzelne Strahlen brachen sich grünlich im Wasser des Tümpels. Es war still. Der Stichling saugte sich fest. Ich bewegte vorsichtig die Hand und machte mich bereit. Doch da sah ich etwas auf dem Grund. Weiter draußen, da wo es tiefer wurde, lag
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