Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Titel: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
Vom Netzwerk:
Hirnquirl. Einen Gießharzblock, in den fein säuberlich alle Teile einer Uhr eingegossen waren: Zahnrädchen, Federchen und Zeigerlein. Fotos seiner Familie, so wie ich das in den Räumen anderer Ärzte gesehen hatte, besaß mein Vater nicht.
    Wenn ich Glück hatte, durfte ich mein T-Shirt ausziehen, und er hörte mich ab. Noch lieber mochte ich es allerdings, wenn ich mich nur in Unterhose auf die Untersuchungs-Pritsche legen durfte und er mich abklopfte. Wenn er seine weiche Hand auf meiner Brust, dem Bauchraum herumschob, mit dem Zeigerfinger der anderen Hand auf den Knöchel pochte und mir mal hellere, mal dumpfere Klänge entlockte. »Hier, hörst du, liegt die Leber, da beginnt die Lunge. Klingt gut, scheint alles in Ordnung. So, jetzt machen wir noch die Reflexe.« Er hatte einen mit Gummi gepolsterten Hammer. An dessen einem Ende konnte man mit einer kleinen Schraube eine Nadel, am anderen einen winzigen Pinsel herausdrehen.
    »So, mach mal die Augen zu! Wenn du was spürst, sagst du: Jetzt!« Ich lag da und wartete. Ich wollte es gut machen. Minimal tippte etwas an meine Ferse. Ich rief: »Jetzt!« »Sehr gut, weiter!« Ohne dass ich hörte, wie mein Vater seine Position veränderte, nahm ich eine kaum merkliche Berührung am Ohrläppchen wahr: »Jetzt!« »Genau richtig!« Wie hatte er das geschafft? So lautlos von der Ferse bis zu meinem Ohr? Dafür war doch sein Arm gar nicht lang genug! Oft versuchte ich die nächste Stelle zu erraten, nahm es als Zeichen unserer Vertrautheit, sie vorhersagen zu können. Aber mein Vater war absolut unberechenbar. Er strich mir mit dem Pinsel über die geschlossenen Augenlider oder kitzelte mich damit in den Nasenlöchern. Wenn ich kicherte, sagte er: »Bitte, Herr Patient, reißen Sie sich zusammen!« Oder er klopfte mir nicht nur mit dem Hämmerchen auf die Kniescheiben, sondern auch auf dem Kopf herum. Ernst zu bleiben war die unbedingte Voraussetzung für diese Untersuchung. Wenn er mir die Nadel schnell über die Bauchdecke fuhr, zuckte diese nach innen, zog sich zusammen, und auch dafür wurde ich gelobt: »Alles sehr, sehr gut. Setz dich noch mal auf. Schüttle mal die Hände.« Er machte es mir vor, begann langsam. Es sah aus, als würde er zwei unsichtbare Glühbirnen in die Luft schrauben. Dann wurde er schneller. »Wie sieht das denn aus, wenn das jemand nicht kann?«, fragte ich. Er spielte es mir vor. Drehte die Hände ungelenk, asynchron, und klappte krampfig die Daumen nach innen. »So, Augen zu und abwechselnd mit dem Zeigefinger schnell auf die Nasenspitze. Aber von ganz weit weg.« Mein Vater untersuchte mich mit wirklicher Hingabe, und ich genoss die Ernsthaftigkeit, mit der er sich mir widmete.
    Hin und wieder kam es vor, dass nebenan das Telefon klingelte und die Sekretärin kurz darauf ihren Ohrring-baumelnden Kopf in das Praxiszimmer steckte und verschwörerisch: »Sind Sie da, Herr Professor?«, flüsterte. »Nein, ich bin nicht da!«, sprach er, ohne von meinem Bauch aufzusehen, »Sie sehen doch, ich habe gerade einen äußerst wichtigen Patienten.« Wenn dann allerdings die Sekretärin insistierte, »Es ist aber dringend. Herr Spichler, aus der Verwaltung«, wandte er sich an mich, »Ich komme gleich wieder«, und ging rüber in sein Büro.
    Das waren Momente, in denen ich komplett aus der Zeit fiel. Das noppig am Rücken klebende Plastik der Untersuchungsliege und das Nachklingen der vom Vater gedrückten und beklopften Hautpartien. Ich lag da und sah an die Zimmerdecke, die mit gelblichen, vielfach gelochten Platten bedeckt war. In dieses Lochmuster hinein ordneten meine Augen Formen, ohne dass ich etwas dafür tat: Ein Kreuz aus Punkten sprang über in ein Quadrat oder ein Rechteck, verschob sich zu einem T. Wenn mein Vater wieder ins Zimmer zurückkehrte, sagte er nur »Verzeih« und setzte die Untersuchung genau an der Körperstelle fort, wo er sie unterbrochen hatte.
    Als er einmal längere Zeit nicht wiederkam, stand ich auf und setzte mich an seinen Schreibtisch. Dort lag seitlich auf einem Stapel ein Intelligenztest für, so stand es auf dem Blatt, Neun- bis Elfjährige. Ich nahm das Blatt und sah mir die Aufgaben an. Meist ging es um Reihen, die man durch logische Ergänzungen beenden sollte. Ein Viereck, in dem auf dem ersten Bild ein kleiner Kreis in die linke obere Ecke gequetscht war. Auf dem zweiten Bild in die rechte, auf dem vierten Bild in die Ecke links unten. Das letzte Bild war ein leeres Viereck. Na, dachte ich, das ist ja

Weitere Kostenlose Bücher