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Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Titel: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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etwas zwischen den Wasserpflanzen und blitzte. Ich kniff die Augen zusammen, die Lichtreflexe auf der Wasseroberfläche blendeten mich. Tief unten schimmerte etwas metallisch am Teichgrund. Ich dachte: »Das kann doch nicht sein. Das ist … ja, das ist eine Glocke!« Eine Wolke schob sich vor die Sonne, und das Funkeln verschwand.
    Ich habe den Glöckner nie wieder gesehen.

Katzen im Querschnitt
    Ein anderer meiner Freunde in der Psychiatrie hieß Ferdinand. Mein Vater nannte ihn »den Prinzen auf der Erbse« oder auch kurz »Prinz Ferdinand«, da er über alle Maßen empfindlich war. Sobald man auch nur etwas zu laut sprach, legte sich seine Stirn schmerzlich in Falten. Er hatte jede Menge eigenwilliger Angewohnheiten, band zum Beispiel stets die Schleifen seiner ausgezogenen Schuhe wieder zu und brauchte dann zum Anziehen ewig. Immer wieder strich er sich über die Unterseiten der Socken, entfernte mit spitzen Fingern selbst kleinste Fussel. Er trug gerne Pullunder, stets ganz glatt gezogen, und darunter ein weißes Hemd. Seine Sachen waren immer picobello sauber. Er duschte jeden Morgen und Abend mit einer ganz speziellen Seife und roch so gut, dass ich ihm, wenn er vor mir die Kellertreppe hinunterging, hinterherschnupperte. Er war beidhändig geschickt und malte mit zwei Stiften gleichzeitig. Und er behauptete, seine Augen könnten unabhängig voneinander lesen. Das linke Auge las die linke Buchseite, das rechte die rechte. Oder er las mit einem Auge und sah mit dem anderen aus dem Fenster. Wenn es regnete, schüttelte er leidend den Kopf. Er hasste es, auf nassem Asphalt zu gehen. Ohne dass ich ihn je danach gefragt hätte, erklärte er mir immer wieder, dass es ein Irrtum sei, dass er in die Anstalt auf dem Hesterberg eingewiesen worden sei. Ich glaubte ihm.
    Wir spielten zusammen in unserem Keller Raumschiff. Eigentlich waren wir etwas zu alt für solche Spiele, aber das war uns egal. Wir spielten, dass wir spielten. Bauten uns aus fleckigen Matratzen einen Planeten und nannten ihn Vulcano. Ferdinand grauste es vor ihm, und erst, als ich aus dem Wäschekeller ein frisches Tischtuch geholt und ausgebreitet hatte, willigte er ein, den Planeten zu betreten und mit mir auf Vulcano zu leben. Wenn wir müde wurden, schlich ich mich nach oben und stahl aus der Speisekammer mehrere Dosen mit eingelegten Pfirsichen. Mit einem Dosenöffner stachen wir zwei Löcher in den Deckel und tranken den dickflüssigen, leicht nach Metall schmeckenden Pfirsichsaft. Die Pfirsiche selbst verschmähten wir. Wir lagen auf der Matratze, sogen abwechselnd an der Dose, und Ferdinand weihte mich in seine Gedankenwelt ein. Er sprach von Verschwörungstheorien, von Signalen, die er empfangen würde, und besonders gern, dass er den Patienten nur spielen würde, da er einen geheimen Auftrag habe. Wenn er sprach, sah er sich alle paar Sekunden ruckartig um, als hätte er etwas gehört oder als würde uns jemand belauschen. Oft wiederholte er meinen letzten Satz, bevor er etwas Eigenes sagte, und wurde im schummerigen Keller zu meinem raunenden Echo. Dieses Gefühl des Beobachtetwerdens, diese Allzeitbereitschaft zu fliehen, seine kruden Gedanken, seine gehauchten Satzwiederholungen erzeugten eine Spannung, die mich flach atmend und sprungbereit durch den Nachmittag trug.
    Er weihte mich in das Geheimnis der unterirdischen Gänge unter dem Hesterberg ein und dass aus der Leichenhalle die Toten verschwinden würden. Er sprach über seine Fähigkeit, Gedanken zu lesen, und erklärte, dass ihn niemand, kein Pfleger, kein Arzt, auch mein Vater nicht, jemals durchschauen würde. Er wäre stets allen einen Schritt voraus. Ich glaubte ihm jedes Wort und behauptete sogar, dass es bei mir auch so sei. Ferdinand sagte leise: »Ich bin nicht der, von dem alle glauben, dass ich es bin. Ich bin ein anderer!« »Ich auch!«, flüsterte ich ergriffen, »ich bin auch ein anderer!«
    Ferdinand konnte fantastisch zeichnen und schenkte mir oft selbst gemalte Bilder. Bilder von Katzen im Querschnitt. Er malte nichts anderes, immer nur Katzen im Querschnitt. Bestimmt zwanzig Katzen im Querschnitt hingen in meinem Kinderzimmer. Sie waren sehr detailliert mit Filzstift gezeichnet. Die verschiedenen Organe waren durch Tunnel verbundene Höhlen. Oft waren diese Tunnel so verschlungen, dass ich einen Finger zur Hilfe nehmen musste, um zum Beispiel von der Lunge zum Herzen zu gelangen. In der Katzengehirnhöhle stand meist ein flaches rotes Rennauto ohne Räder. Es

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