Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)
ein Witz, so einfach ist das. Ohne es tatsächlich zu tun, malte ich meinen hochintelligenten Kreis in die Ecke rechts unten. Doch schon bei der nächsten Aufgabe, bei der jeweils zwei Kreise im Viereck positioniert worden waren, verlor ich die Übersicht. Außer der Aufgabe ganz oben hätte ich keine einzige weitere lösen können. Ab ungefähr der fünften begriff ich überhaupt nichts mehr. Nun waren nicht mehr nur Kreise unterschiedlicher Größe auf den Bildern, dem Viereck selbst fehlten unterschiedliche Linien. Mal war es oben offen mit einem großen und kleinen Kreis, mal seitlich offen mit einem winzigen Kreis. Das vierte fehlende Bild, dieser durch Kombinationskunst sichtbar zu machende Intelligenzbeweis, entzog sich vollständig meinen Möglichkeiten. Ich saß am Praxistisch meines Vaters und hätte so gerne wie ein Nachwuchs-Einstein in Unterhose alles richtig ausgefüllt, um ihm eine Freude zu machen.
Im umfangreichen Waffenarsenal meiner Brüder gab es ein schweres Geschütz, das sehr verlässlich war und über Jahre wahre Wunder wirkte: Sie nannten mich Wasserkopf oder H 2 O. Bis heute bin ich das Gefühl nicht ganz losgeworden, dass da etwas dran sein könnte. Oder sie sagten – allerdings immer nur, wenn meine Eltern todsicher nichts davon mitbekamen –, dass ich gar nicht ihr Bruder, sondern ein Patient der Psychiatrie sei. Ein armseliges, behindertes Würmchen, das, abgelegt vor dem Anstaltstor, das Herz meines Vaters erweicht hatte. »Eigentlich ist dein Zuhause zwei Häuser weiter«, behaupteten sie, »Station G-Oben, wo die Wasserköpfe Mensch-ärgere-Dich-nicht spielen.« Natürlich war mir klar, dass sie mich provozieren wollten, aber es gab ein winziges Eckchen in mir, in dem diese Saat aufging und Wurzeln schlug. Hin und wieder fühlte ich mich tatsächlich unendlich fremd, und das schien doch eine naheliegende Erklärung zu sein. Sie hatten sich sogar ein Wasserkopfzeichen ausgedacht: Daumen und Zeigefinger zu einem Kreis geschlossen, wie Taucher es machen, bevor sie sich rückwärts vom Bootsrand kippen lassen – und eine kleine Melodie: eine bösartige Dreitonfanfare. Diese brauchten sie nur leise zu summen oder zu pfeifen, und schon drehte ich durch.
Auf dem Weg an die Ostsee kamen wir an einem gelb gestrichenen Öltank vorbei, ein Mordstrumm aus Beton, auf dem ein Werbespruch stand: »Ich bin zwei Öltanks.« Ich saß, eingequetscht zwischen meinen Brüdern, auf der Rückbank. Mein Vater, einer der schlechtesten Autofahrer, denen ich je begegnet bin, fuhr im dritten Gang, Roth-Händle rauchend, die friedliche Landstraße entlang. Die »Ich bin zwei Öltanks«-Stelle kam näher. Nur die Andeutung eines Blickes in Richtung des Öltanks oder das tief unten zwischen den Knien gegebene Wasserkopfzeichen reichten aus, um mich durchdrehen zu lassen.
Meine Eltern wunderten sich über diese Anfälle aus dem Nichts. Das war die Formulierung, mit der das Herausbrechen meines Zornes beschrieben wurde: aus dem Nichts.
Ich verriet meinem Vater, dass ich hin und wieder, wenn mich der Zorn übermannte, das Gefühl hätte, vor meinen Augen würde das Bild verwackeln und zur Seite springen, so als würde jemand gegen meinen Kopf schlagen. Er sah mich besorgt an, und ich musste im Hesterberg bei einem seiner Arztkollegen zum EEG. Mein mittlerer Bruder warnte mich, kurz bevor ich das Haus verließ: »Wenn du während des EEG auch nur ein Mal an deinen Schwanz denkst, bringen sie dich nach D-Oben zu den Perversen!« Es war qualvoll, denn während die Geräte piepten und mir zwei Dioden an den Schläfen klebten, konnte ich natürlich an nichts anderes denken als an meinen Schwanz. Je mehr ich versuchte, nicht an ihn zu denken, mich abzulenken, desto mehr dachte ich an ihn. Ich glaube, ich habe in meinen ganzen Leben nie wieder so ausschließlich, so konzentriert und so lange nur an ihn gedacht wie in dieser Stunde. Erstaunlicherweise war aber alles in Ordnung mit meinem Gehirn, und ich durfte wieder nach Hause.
Langsam wurde ich stärker als mein mittlerer Bruder, der Sahne trinken musste, weil er so spillerig war, und sogar zwanzig Pfennige bekam, wenn er mal einen ganzen Tag lang nicht weinte. Das wundert mich noch heute, dass ausgerechnet mein Vater, ein habilitierter Kinder- und Jugendpsychiater und erfahrener Pädagoge, seinen eigenen Sohn mit Geld fürs Nicht-Weinen bezahlte!
Nach jedem Mittagessen, wenn die Innerei des Tages aufgegessen war, sprang ich auf und brüllte: »Zimmerstürmen!«
Weitere Kostenlose Bücher