Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)
Vogelhaus?« Der andere: »Also, wenn man mal was gewinnt, dann ist es doch toll, wenn man es gut gebrauchen kann.« Sie lachten, und ich war maßlos enttäuscht.
Als dann aber eine Woche später das Paket ankam, war ich überrascht, wie groß es war. Heraus zog ich ein eindrucksvolles Vogelhaus mit Strohdach, massiven Stützen und drei kleinen Sitzstangen. Das Vogelfutter konnte man durch eine Art Kamin einfüllen. Wir positionierten es auf einem ausrangierten, gemauerten Blumenkübel, den man vom Wohnzimmerfenster aus gut beobachten konnte. Mein Interesse erlahmte schon nach wenigen Tagen, aber mein Vater mochte das Vogelhaus. Höhepunkt blieb Winter für Winter der Buntspecht. Mein mittlerer Bruder war es, der es ein paar Jahre später, das Strohdach war schon arg zerrupft, für ein Experiment präparierte. Er hatte seine Fotophase und wollte ein paar, wie er es nannte, ›echte Vogelprofinahaufnahmen‹ schießen. Er installierte eine komplizierte Lichtschranke, die mit dem durch eine Plastiktüte geschützten Fotoapparat verbunden war. Er streute Futter, und wir alle standen hinter der Scheibe und warteten, ob es funktionieren würde. Nach einer Stunde war trotz lebhaften Meisen-Besuchs die Lichtschranke nur ein einziges Mal ausgelöst worden. Am nächsten Morgen allerdings war kein einziges Bild mehr auf dem Film. Sechsunddreißig Fotos verschossen. Wir waren alle sehr gespannt, was auf den Bildern sein würde. Was mein Bruder von der Entwicklung mitbrachte, waren eine unscharfe Meise und fünfunddreißig brillante Aufnahmen eines Eichhörnchens, das direkt in die Kamera starrte. Geschwungene Schnurrhaare und ein hellwacher Knopfaugenblick. Mit diesem Foto machte mein Bruder den ersten Platz beim Schulfotowettbewerb. Er gewann ein fantastisches Fernglas. Olivgrün. Mit dem man den Sekundenzeiger im Aufenthaltsraum von Station D-Oben durchs Küchenfenster verfolgen konnte.
Nach den Eichhörnchen-Porträts verfiel das Vogelhaus zusehends. Sein Ende fand es in einer Silvesternacht. Ich gab eine Party und Freunde von mir legten mehrere sogenannte D-Böller hinein, einen auch in den Futterkamin. Die Explosionen zerfetzten das Dach. Das Stroh brannte und zurück blieb, unter allgemeinem Gelächter, eine rauchende Vogelhausruine, die am nächsten Morgen zum Haut- und Grätenmatsch des Neujahrskarpfens in die Mülltonne wanderte.
Blutsbrüder
Ich liebte unseren Hund. Wenn ich unglücklich war, lag ich weinend an seinem Bauch und schluchzte: »Keiner versteht mich, nur du!« Ich wollte diesem Hund nahe sein. Er durfte in meinem Bett schlafen. Ich lag an die Wand gedrückt, direkt vor seinem schlafoffenen Maul, aus dem es nach abgetautem Kühlschrank roch. Der Hund war mein Verbündeter.
Die Rasse unseres Hundes war eine spezielle. Warum mein mittlerer Bruder ausgerechnet einen Landseer wollte, weiß ich nicht mehr. Jahrelang – länger als mir lieb ist – habe ich meinem Bruder geglaubt, dass diese Hunde Landseer heißen würden, weil sie mit ihren messerscharfen Augen früher in den Ausgucken von Schiffen nach Land Ausschau gehalten und wenn sie es erspähten, losgebellt hätten. Irgendwann klärte er mich dann auf, dass sie nach einem englischen Lord benannt worden waren, einem berühmten Landschafts- und Tiermaler seiner Zeit. Die großen, schwarz-weiß gefleckten Hunde waren sein Lieblingsmotiv. Diese Hunderasse ist so selten, dass ich, wenn ich einen anderen als unseren Landseer traf – das ist in dreißig Jahren höchstens drei- oder viermal vorgekommen –, sofort dachte, es wäre unser eigener Hund. Das waren nach seinem Tod seltsame Wiedergänger-Erlebnisse.
Das Besondere an dieser Rasse, die auch schwarz-weißer Neufundländer genannt wird, ist ihre besinnungslose Liebe zum Wasser. Es gibt soweit ich weiß keinen anderen Hund, der so gerne schwimmt und sogar tauchen kann. In der Fachliteratur kann man nachlesen, dass Landseer keine normalen Hundepfoten, sondern zwischen den Krallen Schwimmhäute haben. Als ich dies in der Schule im Biologieunterricht erzählte, sah mich der später an einer Geschwulst im Nacken gestorbene Biolehrer mit dem mir so vertrauten Du-sollst-nicht-lügen-Gesicht an. »Hunde mit Schwimmhäuten gibt es nicht!«, stellte er fest. Um meine Ehre zu retten, bot ich an, den Hund in die Schule mitzubringen. Mein mittlerer Bruder gab seine Erlaubnis, und zur verabredeten Stunde klopfte es an der Klassenzimmertür. Großer Auftritt: Meine Mutter mit Hund. Ich lief nach vorne, umarmte
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