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Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Titel: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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noch nie zuvor gedacht hatte, ereilte mich, nahm Besitz von mir. Ich stellte mir vor, wie es wohl wäre, meinen Vater niemals wiederzusehen. Wenn das wirklich geschehen sollte, dachte ich, dann muss ich mir jetzt genau merken, wie er da eben weggegangen war. Dann wäre das der letzte Eindruck, den ich ab jetzt für immer in mir tragen würde. Ich prägte, ja brannte mir dieses letzte Vaterbild ein. Nichts davon durfte verloren gehen, kein Detail dem Vergessen anheimfallen. Daran kann gar kein Zweifel bestehen, wurde mir unumstößlich klar, ich werde ihn nie, nie wiedersehen. Während meine Augen vom Hineinstarren in dieses konturlose Weiß zu brennen begannen, wuchs meine Angst. Aber mit dieser Angst wuchs auch die Deutlichkeit des durch den Schnee stapfenden Vaters. Plötzlich sah ich seine weichen Nackenhaare unter der Wollmütze hervorschauen, auf die sich die Flocken gesetzt hatten. Sah die Straßenlaterne mit ihrer kühn balancierten, dreißig Zentimeter hohen Mütze aus Schnee. Sah die bedrohlichen Löcher, die seine Stiefel hinterließen. Sah diesen Blick, da er sich noch einmal zu uns umgedreht hatte, diesen letzten Blick meines Vaters, in dem doch so viel mehr Weichheit und Angst gelegen hatte, als ich es im ersten Moment wahrgenommen hatte. Je genauer ich mich erinnerte, desto mehr Angst bekam ich, und je mehr Angst ich bekam, desto genauer konnte ich mich erinnern. Dieser Reißverschluss zog sich immer weiter zu, schnürte mich ein, und gleichzeitig kam es mir so vor, als würde ich jeden Moment von meiner Fensterbank in unseren weggeschneiten Garten kippen und der Schnee auch mich weichzeichnen, auch mich auflösen, auch mich verschlucken und begraben. Entfernt hörte ich das Motorengeräusch eines Hubschraubers im Landeanflug.
    Ich sprang auf und rannte zu meiner Mutter, die sich in den Sessel meines Vaters gesetzt hatte und einen Brief schrieb. »An wen schreibst du?«, fragte ich. Sie sah auf: »Ach, nur so vor mich hin.« »Wann kommt Papa wieder?« »Weiß nicht.« »Glaubst du, dass er mitfliegen muss?« »Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. In so einem Hubschrauber ist ja nicht viel Platz.« Ich legte mich zum Hund, der sich kurz vorher gewälzt haben musste, denn um ihn herum war der Teppichboden überzogen mit Hundehaaren. Mit den Fingern rieb ich sie zu Haarwürsten.
    Ich ging zur Tür meines älteren Bruders, klopfte an. Das musste man. Von drinnen: »Wer da?« »Ich bin’s!« »Was gibt es denn?« »Darf ich mal reinkommen?« »Moment.« Ich hörte ihn etwas wegräumen, die Schreibtischschublade aufziehen und zuschieben. Er öffnete seine Tür, blieb im Türrahmen stehen, hinter ihm blubberten seine riesigen Aquarien. »Was denn?« »Glaubst du, Papa fliegt mit?« »Nee, Quatsch. Der ist doch viel zu dick! Wetten, der ist gleich wieder da!« »Aber die brauchen doch einen Arzt.« »Ärzte gibt’s wie Sand am Meer. Außerdem können die da doch gar nicht landen, Bruderherz.« »Aber was wird dann aus Michaela? Glaubst du, die stirbt?« Mein Bruder machte ein ratloses Gesicht und zog seine Tür zu.
    Mein mittlerer Bruder saß über sein Mikroskop gebeugt. Es war ein ausrangiertes Elektronenmikroskop aus dem Anstaltslabor. Zwei Männer hatten es ächzend in sein Zimmer geschleppt. »Was siehst du dir an?«, fragte ich leise, um ihn nicht zu erschrecken. Ohne aufzusehen antwortete er: »Ich habe den Nukleus eines Zwiebelhäutchens extrahiert.« Ich wusste nicht, was er meinte, und fragte: »Darf ich mal sehen?« »Nee, grad nicht. Ich muss den jetzt einfärben.« Mit einer Pipette tropfte er eine gelbliche Essenz auf das Glasplättchen. Er schraubte am Okular herum und staunte: »Wow, das gibt’s ja nicht!« »Lass mich doch mal sehen!« Er schwieg und machte sich Notizen.
    Ich lief in unser sogenanntes Fernsehzimmer und sah durch das Fenster auf den Weg hinaus. Alle Abdrücke meines Vaters waren verschwunden. Ich trottete zurück ins Wohnzimmer und legte mich auf das Sofa, unter unsere Ahnengalerie. Meine Mutter sah kurz auf, lächelte mir zu und schrieb weiter ihren »Achnurso«-Brief.
    Was war nur mit unserem Haus los? Alles gedämpft. So als wäre der Schnee auch hier drin. Als würde die Last auf dem Dach auch auf uns lasten. Als wären wir alle gefangen in diesem Pulverpanzer. Über mir hingen die Ahnen. Ganz oben Schattenrisse in runden Rahmen, irgendein Leibarzt von Goethe, etwas tiefer schwarz-weiße Männer in Uniformen und eingeschnürte Frauen mit durch lange Belichtungszeiten

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