Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)
gefrorenem Blick. Direkt über mir die Großeltern väterlicherseits, genannt Ami und Api. Bestimmte Ähnlichkeiten unter den Männern waren überdeutlich. Schon die Schattenriss-Herren hatten große Nasen und wenig Haare.
Als ich fünf war, starb der Vater meines Vaters. Mit ihm und dieser Ahnenreihe verband mich ein Ereignis, an das ich mich selbst nicht erinnere, das aber gerne erzählt wurde, wenn sich ein Besuch vor die Galerie der Vorfahren stellte. Mit zwei oder drei Jahren soll es mein größtes Glück gewesen sein, mit einem Hammer auf Dinge zu schlagen, egal was, Steine, Holzklötze, Pappschachteln, Hauptsache darauf herumhämmern. Von eben diesem Großvater Api bekam ich einen Glaserhammer geschenkt. Sogar mit einem Band im Stiel, damit ich ihn mir umhängen konnte. Eines Tages, er war da um die achtzig, schlief er zur Mittagszeit genau auf dem Sofa ein, auf dem ich jetzt lag. Meine Mutter hörte das Geräusch von splitterndem Glas und rannte ins Wohnzimmer. Ich hätte, so meine Mutter, hoch oben auf der Sofakante gestanden und mit meinem Hammer ein Bild nach dem anderen zerdeppert. Auf den eben noch schlafenden, jetzt verdutzt erwachenden Großvater sei ein Scherbenregen niedergegangen. Selbst als er schrie »Was tust du da, Satanas?«, hätte ich noch weitergehämmert.
Seltsam, dachte ich, jetzt wieder auf diesem Sofa unter den Vorfahren dösend, warum hatte ich das nur gemacht? Da klingelte das Telefon in die Schneekatastrophenstille hinein. Ich sprang auf und nahm den Hörer ab. Es rauschte. Ich rief: »Papa? Papa?« »Jaaa, ich bin’s. Kannst du mich hören?« »Schlecht. Wo bist du?« Meine Brüder und meine Mutter kamen dazu, und jeder von ihnen wollte den Hörer haben, hielt sich für den jetzt einzig richtigen Gesprächspartner und war sich sicher, dass es an mir lag, dass ich nicht begriff, was mein Vater sagte. Aber ich gab ihn nicht her. Aus der Muschel zischte es. Ich hörte das Wort »Hubschrauber«. Mein mittlerer Bruder riss am Telefonkabel. Ich schrie ihn an. Er versuchte, mir den Hörer aus der Hand zu drehen. Meine Mutter rief: »Hört auf! Was sagt er? Wo ist er?« Ich rief »Papa! Papa!«, doch die Verbindung wurde unterbrochen. »Du bist so ein Vollidiot!«, stöhnte mein ältester Bruder.
Ich rannte in mein Zimmer und knallte die Tür zu. Aber dieser eine Knall reichte mir nicht. Ich öffnete sie wieder und warf sie ein zweites Mal mit noch mehr Schmackes ins Schloss. Und dann ein drittes, ein viertes und fünftes Mal. Unermüdlich riss ich die Tür auf und warf sie mit aller mir zur Verfügung stehenden Kraft wieder zu. Einhändig, beidhändig, bis der Putz aus dem Türstock zu rieseln begann. Am Flurende sah ich, wie mich acht Augen sorgenvoll beobachteten. Zwei Mutteraugen, vier Bruderaugen und zwei Hundeaugen. Ich wollte nie, nie wieder damit aufhören. War wie eingespannt in eine Zorn-Apparatur aus Wucht und Knall. Bis zu meinem Tode würde ich diese Scheiß-Kinderzimmertür zufeuern.
Doch meine Erschöpfung machte auch diesem Lebensentwurf einen Strich durch die Rechnung. Völlig fertig brach ich zusammen, schleppte mich in mein Bett und, keine Ahnung warum, spuckte die Wand an. Ich rollte mich in meine Decke ein und beobachtete, wie mein Speichel missmutig und irgendwie gehemmt die Rupfentapete hinunterkroch. Ich lag da und lauschte. Etwas war anders. Ich stand wieder auf und sah hinaus. Die Schneeflocken sanken wie verlangsamt zu Boden. Ich öffnete mein Fenster. Kein Lüftchen regte sich mehr. Der Sturm hatte sich gelegt. Nach mehr als zwei Wochen Sturmjaulen und -heulen, nach Staubschnee-wirbeln und Augen-Zusammenkneifen war jetzt Stille eingekehrt.
Es dauerte noch Stunden, bis mein Vater zurückkam – unversehrt, mit roter Nase und frohen Augen. Er war tatsächlich mitgeflogen. Angeschnallt, hinten im Hubschrauber. War auf unserer Koppel gelandet und hatte Michaela das Insulin gebracht. Doch das war noch nicht alles. Ein Fernsehteam war auch mitgeflogen und hatte einen Bericht über die Schneekatastrophe gedreht. »Vielleicht«, sagte mein Vater, »bin ich ja auch drin. Gefilmt haben sich mich. Sogar interviewt.«
Wir versammelten uns vor dem Fernseher. Der Zeiger ruckte auf die Zwölf zu. Die letzten fünf Sekunden wurden durch ein stotterndes Piepen untermalt. Dann ertönte der Acht-Uhr-Tagesschau-Gong. Die Schneekatastrophe war das erste Thema. Der Sprecher begann: »Die Situation im Norden spitzt sich weiter zu. Obwohl der Wind nachgelassen hat, sind immer noch
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