Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)
und der Hund leckte mir das Gesicht. Ich klopfte ihm den Kopf, sagte: »Fein gemacht. He, du Schlittenhund, komm her!«, und herzte und küsste ihn. Tagelang, bis auch der letzte Rest Schnee geschmolzen war, zehrte ich von dieser Fahrt, hatte ich einen kleinen, goldenen Stein im Kopf, der leuchtete und mich ganz verrückt vor Glück machte.
Ich glaube, dass es mein Vater war, der dann dafür sorgte, dass der Geschwisterhaushalt der Meisners aufgelöst wurde. Der Bruder bekam eine Wohnung in der Stadt, und Michaela wurde in eine Einrichtung verfrachtet. Ihr Bruder starb, als er so alt war, wie er immer schon ausgesehen hatte, an einem Herzinfarkt beim Mofafahren. Die Schwester ist aufgrund ihres Diabetes erblindet, lebt aber noch. Ihr Haus verfiel.
Wochenende für Wochenende fuhren wir aufs Land. Mein Vater setzte sich in seinen Landhaussessel und las Landhauslektüre wie zum Beispiel »Walden« von Thoreau oder blätterte in Gartenzeitschriften, und meine Mutter schuftete. Er lief über das riesige Grundstück und suchte nach dem aus fachlicher Sicht optimalsten Aufstellplatz für den geplanten Bienenstand, zählte, wie viele Eier seine andalusischen Hennen gelegt hatten, hielt seine Hände in den Urinstrahl eines Schafes und rief: »Ah, das ist das Leben, das sprudelnde Leben!«, und meine Mutter schuftete.
Ein Leben lang, oder richtiger: sein Leben lang setzte sie das praktisch um, was er sich theoretisch ausgedacht hatte. Schon immer hatte sie meinem Vater alles Praktische abnehmen müssen. Vor Jahren hatte sie sowohl seine Doktorarbeit als auch seine Habilitation für ihn geschrieben. Er wusste alles, aber sich hinsetzen und es ordnen konnte er nicht. Rauchend ging er vierzehn Tage im Zimmer auf und ab und diktierte meiner Mutter seine komplette Habilitation. Er war ein Meister darin, Dinge zu delegieren, aber eine komplette Null darin, sie selber auszuführen. Heute denke ich, dass vielleicht auch unsere Familie für ihn immer nur eine Vorstellung war. Das Leben als Direktor einer Psychiatrie, das Leben als Kapitän auf einem Schiff, das Leben als Selbstversorger auf dem Land, das Leben als Vater und Ehemann in der Familie – auch wir waren eine Theorie, die er nur in seinem Sessel, in Bücher vertieft, oder fern von uns ertrug.
Der Seemann und die Nonne
Die Tatsache, dass ich als Jüngster auch als Erster zu Bett gehen musste, kränkte mich nicht, das sah ich durchaus ein, und neun Uhr war für mein Alter unter der Woche eine wirklich großzügige Zeit. Dass ich aber dadurch keinen einzigen Spielfilm zu Ende sehen konnte, führte immer wieder zu Dramen und Zusammenbrüchen. Die Spielfilme begannen um Viertel nach acht, direkt nach den Nachrichten, und gingen bis zehn Uhr oder auch länger. Ich war in einer ausweglosen Situation. Sollte ich mich aus Selbstschutz, wie ein minderjähriges Vernunftswunder, um Viertel nach acht aus dem Fernsehzimmer verabschieden? Sollte ich allen ein Gutenachtküsschen geben und sagen: »Ach wisst ihr, ich fang den Film lieber gar nicht erst an. Denn neun Uhr ist ja meine Bettgehzeit, wie ihr alle wisst. Das macht mich nur traurig. Also gute Nacht, liebe Familie, und viel Spaß. Ihr könnt mir ja morgen beim Frühstück erzählen, wie es war.« Stellten sich meine Eltern das so vor? Ich hatte es sogar einige Male versucht, war hinausgegangen und hatte mich zum Hund gelegt. Aber sobald ich die Vorspannmusik oder den brüllenden Metro-Goldwyn-Mayer-Löwen hörte, konnte ich nicht anders, als zurück zum Fernseher zu laufen und mich nah davorzulegen. Meine Brüder machten flehentliche Gesichter und baten: »Aber bitte, bitte kein Neun-Uhr-Drama, das ist so ein hammertoller Film.« Oder leiser: »Verteilt schon mal die Ohrstöpsel.« Mein Vater saß in seinem Sessel. Er hielt ein Buch in den Händen, da er angeblich viel lieber las. Zwei Stunden lang konnte er so dahocken, gebannt von einem Film, ohne ein einziges Mal umzublättern.
Mein Hang zu Spielfilmen wäre mit Bezeichnungen wie »mögen« oder »gefallen« nur unzulänglich beschrieben. Es war die einzige Zeit des Tages, da ich zur Ruhe kam. In der Schule rieb ich mir die Cordhose blank, kippelte und trommelte, von allen unbemerkt, so schnell wie möglich in meinen Schuhen mit meinen Zehen herum. Meine zehn im Geheimen zuckenden Blitzableiter. Am Nachmittag rannte ich über das Anstaltsgelände, erstürmte die Zimmer meiner Brüder oder zappelte einfach planlos durch die Welt. Meine Hausaufgaben, ein pädagogischer
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