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Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Titel: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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versorgte.
    Wir schafften uns drei Schafe an, von denen eines schwarz war, und nannten sie Kaspar, Melchior und Balthasar. Wir schoren sie selbst. Und jedes Mal, wenn meine Mutter ein Schaf versehentlich in die Haut schnitt, sprühte mein Vater ein wenig Desinfektionsspray auf die Wunde. Wie immer: Kutasept Orange. Frisch geschoren standen die Schafe auf der Koppel, nackt, übersät mit orangefarbenen Tupfern. Sie sahen beleidigt aus, schienen tief in ihrer Schafswürde gekränkt, und die Bauern beobachteten uns vom Elektrozaun aus und schüttelten die Köpfe.
    Meine Mutter wusch die Wolle, färbte sie, spann sie eigenhändig am Spinnrad und strickte Unmengen kratzender Kleidungsstücke für uns: Pullover, Westen, Hausschuhe, Jacken und sogar Hosen. Ich war von oben bis unten in tee- oder blattlausfarbene Strickmode gehüllt, schwitzte und roch, wenn ich in den Regen kam, nach Schaf.
    Mein Vater wurde nur in medizinischen Notfällen praktisch tätig. Er schnitt den Schafen, als sie die Klauenseuche bekamen, die verfaulten Hufstellen heraus, kastrierte eigenhändig unseren Schafsbock und bescherte mir unvergessliche Eindrücke einer Schafsgeburt: Mein Vater im Schein einer funzeligen Lampe, mit offenem Arztkittel im Stroh stehend, wie er dem frisch geborenen, fruchtwassernassen Lamm die Nabelschnur abbindet, ihm einen Klaps auf das wollene Hinterteil gibt und es zum ersten Mal »Mähhh« macht.
    Mein Wissen über Schafskastrationen habe ich für einen Schulaufsatz genutzt. Ich wusste, dass es zwei Arten gab: Entweder stülpt man einen Gummiring über die Hoden, wodurch die Blutzufuhr unterbunden wird, die Hoden absterben und später einfach abfallen, oder man kneift die Hoden, quetscht den Samenstrang mit der sogenannten Burdizzo-Zange ab. Wieder Thema verfehlt! »Joachim, was hat Schafskastration mit Ebbe und Flut zu tun?«
    Dann lag eines Nachmittags Vater Meisner tot mit Käppi im Knick. Die beiden Kinder waren nun allein, und da der Sohn schon über achtzehn war, durften sie, Bruder und Schwester, zusammen dort wohnen bleiben. Nun wurde es noch trauriger. Wir spielten Tischtennis, machten Lagerfeuer, pflanzten Büsche und weißelten den Stall, neue Böden wurden verlegt, ein herrliches Reetdach schmückte die Bauernkate, und die Küche verschönerten Hunderte selbst gemalte und gebrannte Bauernkacheln. Und keine zwanzig Meter weiter hockte dieses verwahrloste Geschwisterpaar in stumpfer Monotonie.

Schneekatastrophe
    Es kam ein Winter, den wir nie mehr vergessen sollten. Ein richtig prägendes, sogenanntes kollektives Erlebnis. Um die Weihnachtszeit herum war es außergewöhnlich warm, und es nieselte auf die elektrischen Lichtlein der Tannenbäume. Doch dann, kurz vor dem Jahreswechsel, wurde es plötzlich kalt. Es fing an zu schneien! Vom ersten Moment an war dieser Schneefall ungewöhnlich: Winzige, vereinzelte Schneepünktchen huschten durch die Luft, so leicht, dass es im ersten Moment aussah, als würden sie selbst fliegen, wie klitzekleine weiße Winterinsekten überall herumschwirren. Sie ließen sich fallen und stiegen wieder auf, machten kurz auf dem Fensterbrett Pause und flogen wieder los. Der Wind nahm zu und wuchs sich innerhalb von nur einer Stunde zu einem heulenden Orkan aus.
    Genauso selten wie es bei uns im Norden richtig heiß wird, wird es richtig kalt. Wenn es schneit, sind die Flocken meist groß und schwer. Sie schweben auch nicht zu Boden, sondern lassen sich nass aus den tief hängenden Wolken fallen, stürzen senkrecht nach unten. Norddeutsche Schneeflocken sind nicht sonderlich begabt im Winterzauber verbreitenden Hinabsinken, im Überzuckern der Landschaft, dem Wattieren von Vogelhausdächern. Sie plumpsen feucht aus dem Himmel, bereit, sich, sobald sie den Boden berühren, in Wasser zurückzuverwandeln. Die bei uns heimische Schneeflocke ist von deprimierender Kurzlebigkeit. Sie ist schon zufrieden, wenn sie den weiten Weg von ihrer Wolke bis hinab auf die feuchte Erdoberfläche überhaupt schafft. Dort gibt sie bereitwillig auf und schmilzt. Da sie aber so selten ist, wird sie trotzdem mit unverhältnismäßiger Begeisterung empfangen. Liegen zu bleiben und nach und nach mit anderen Überlebenden den Boden zu bedecken, gelingt ihr so gut wie nie.
    In meiner Heimatstadt rennen alle, sobald es auch nur ein paar von diesen unbeholfenen Nassflocken geschafft haben, sich auf der Erde zu einem mickrigen Schneehäufchen aneinanderzuklammern, raus zum Schlittenfahren. Nach nur einer Stunde

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