Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Titel: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
Vom Netzwerk:
Einfall meines Vaters, machte ich wie ein kleinwüchsiger Gelehrter an einem extra für mich in der Psychiatrie-Schreinerei getischlerten Stehpult. Ich hatte so oft darauf hingewiesen, dass ich es hassen würde zu sitzen, dass mein Vater gesagt hatte: »Na, dann stehst du eben!« Meine Brüder rollten mit den Augen, öffneten meine Kinderzimmertür und sprachen so, als ob sie Funker wären: »Hirni am Stehpult! Hirni am Stehpult! Bitte melden!« Ich stand wippend auf den Zehenspitzen, übte in krakeliger Schmierschrift die englischen Wochentage und begriff nichts. Buchstabe für Buchstabe kopierte ich das Wort »Wednesday« aus dem Englischbuch. Dann deckte ich es zu. Als hätte mir ein Sekundentumor das Gehirn weggefressen: alles vergessen! Es ging einfach nicht. Mein Kopf war eine unwirtliche Wüste, in der Zahlen und Schrift orientierungslos umherirrten, spurlos verschollen gingen und nie mehr gesehen wurden. In meiner Not hatte ich sogar eine Zeit lang Buchstaben nicht abgeschrieben, sondern mit Butterbrotpapier abgepaust, so kryptisch waren sie mir. Ich wäre schon froh gewesen, wenn mein Hirn ein Sieb gewesen wäre, dann hätte sich unter Umständen immer noch der ein oder andere kompaktere Wissensbrocken darin halten können. Doch in meinem Kopf war einfach nichts: keine Haken, keine Schubladen, keine Schränke: einfach kein Stauraum für irgendeine Art von Information. Egal wie, im Sitzen, im Stehen, ich hätte auch fliegen können – weg, alles war sofort wieder weg. Zum einen Ohr rein und zum anderen gleich wieder raus, das war für mich mehr als nur ein Spruch, das traf den Nagel mit voller Wucht auf den Kopf. Meine Ohren waren Ein- und Ausgänge eines unbeleuchteten Hohlraumes, eines Tunnels mit Durchgangsverkehr. »Hirni am Stehpult! Hirni am Stehpult! Bitte melden!«
    Auch bei den Mahlzeiten war ich immer in Bewegung, aß und trank in solch einem Tempo, dass mir vor lauter Hektik die Koordination durcheinandergeriet. Stach mir mit der Gabel in die Lippe, kippte, egal wie weit ich es vor mir in Sicherheit gebrachte hatte, mein Glas um und tropfte mir unentrinnbar mit Tomatensoße den Pullover voll. Mein Vater legte mir die Hand auf die Schulter und sprach wie ein Tiertrainer: »Ruhig, hm, ganz ruhig, es ist alles gut.« Ich konnte aber nicht anders. Es kam mir so vor, als wäre einfach zu viel in mir drin. Ein paar Liter zu viel Blut, zu große Knochen, zu fette Organe, ein zu großes pumpendes Herz, einfach zu viel. Ich wäre so gerne ein dicker und behäbiger Mann wie mein Vater gewesen, ein Bildungs-Buddha, aber ich war ein spindeldürrer Hochdruck-Zappler.
    Nur vor dem Fernseher beruhigte ich mich. Sobald ich dort lag, kam eine geradezu wohlige Gelassenheit über mich. Der brüllende Metro-Goldwyn-Mayer-Löwe war meine Entspannungs-Fanfare. Doch durch eine bösartige Magie verging die Dreiviertelstunde bis neun Uhr unfassbar zügig. Im ersten Moment dachte ich stets, meine Brüder wollten mich provozieren, wenn einer von ihnen sagte: »So, neun, Abflug, Kleiner!« Ich sah zu meiner Mutter hinüber. Sie nickte. Ich krabbelte zu meinem Vater, nahm seine Hand und drehte die Armbanduhr zu mir. Tatsächlich, kurz nach neun. Was dann kam, folgte einem verlässlichen Muster. Ich legte mich wieder hin, in der Hoffnung, dass auch meine Eltern und Brüder den Film so spannend fanden, dass sie die Uhrzeit und mich einfach vergaßen. Doch egal, wie fesselnd der Film auch war, meine Brüder waren strenge Zuchtmeister und legten, wenn es um mich ging, größten Wert auf die Einhaltung der mir auferlegten Regeln. Spätestens um zehn nach neun erinnerte sich einer von ihnen an mich: »Ich glaub da ist einer überfällig.« Jetzt stimmte auch meine Mutter zu: »Komm mein Lieber, ich begleite dich. So spannend ist das nun auch wieder nicht.« Die nächste Phase war die Diskussionsphase, in der ich mir gerne ein absurdes Argument zu eigen machte: »Aber warum lasst ihr mich denn dann überhaupt gucken? Dann hättet ihr mich gleich um Viertel nach acht ins Bett schicken müssen.« »Ruhe, wir wollen das hier sehen! Los, geh ins Bett.« »Bis halb zehn, ja, bitte?« Es war immer gut, zuerst mit meiner Mutter zu verhandeln und dann mit meinem Vater. »Also gut. Aber um zwanzig nach gehst du dann einfach. Versprochen?« Ich nickte, legte mich zurecht, und mein mittlerer Bruder rief: »He, es ist schon zwanzig nach!« Wieder sah ich auf die Uhr meines Vaters. »Neunzehn nach!«, rief ich und legte mich wieder hin. »Papa,

Weitere Kostenlose Bücher