Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)
bitte, bitte nur noch einen Moment!« Mein Vater war oft einfach zu müde, um streng zu sein, und mit einem »Gut, fünf Minuten noch« gab er mir sonor eine letzte Schonzeit. Trotz dieses Zugeständnisses war ich zu diesem Zeitpunkt schon irreversibel auf der Raketenabschuss-Rampe aufgebockt. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Mein Countdown lief.
Um halb zehn musste mein mittlerer Bruder zu Bett. Wenn meine Zeit sich der seinigen näherte, wurde er böse. Dabei wusste ich genau, dass er, wenn ich erst einmal schlief, die Spielfilme bis zum Ende sehen durfte. »Jetzt langt es mal! Der soll ins Bett! Ist gleich halb zehn. Morgen ist Schule.« Ich rief zu ihm herüber: »Lass mich doch in Ruhe. Was geht dich das überhaupt an.« Meine Mutter dazwischen: »Hört auf. Lasst euch in Frieden!« Währenddessen drehte mein ältester Bruder, wohl wissend, was uns nun allen bevorstand, den Fernseher lauter. Hiermit begann die dritte Phase: Mein mittlerer Bruder sagte irgendetwas Fieses wie: »Los, Wasserkopf, ab in die Kiste, morgen musst du fit sein, um in Mathe endlich mal ’ne Fünf zu schaffen!« Und ich startete meine erste Zornzündstufe, volle Kraft voraus, und hob vom Boden ab. Schreiend stieg ich in die Höhe, durchstieß brüllend die Atmosphäre, warf die ausgebrannten Triebwerksteile ab und trat trampelnd in meine wutentbrannte Umlaufbahn ein. Schwerelos schlug ich um mich und ließ allen irdischen Kleinmut hinter mir. Aber, und das ist ein riesiges ABER, obwohl alle glaubten, ich wäre weggetreten und nicht mehr ganz bei Sinnen, gelang es mir, während meines kosmischen Anfalls weiter das Geschehen auf dem Bildschirm zu verfolgen. Ich wälzte mich so, dass ich alles im Blick behielt. Ein Teil von mir bog und krümmte sich im Jähzorn, während der andere Teil, in Schwerelosigkeit geborgen, gelassen im Orbit kreiste und weiter den Spielfilm verfolgte. Das war mein Geheimnis, das durchschaute keiner. Das war hohe Kunst: Auszucken und gleichzeitig Fernsehen gucken!
Mein Vater beugte sich über mich, griff mir unter die Arme, stellte mich auf die Füße und führte mich ab. Sobald ich aus dem Fernsehzimmer entfernt worden war, kam das Unglück. Schluchzend stotterte ich: »Ich hätte hätte das das das so so so gerne zu zu Ende gesehen!« Er tröstete mich, leistete mir beim Zähneputzen Gesellschaft und brachte mich zu Bett. »Warte, Papa, ich will nur noch schnell Gute Nacht sagen!« Mein Vater zog wissend die Braue seines Gottfried-Benn-Auges in die Höhe: »Aber schnell, ja!« Mitleiderregend, wie ein blondgelockter, geprügelter Hund im Schlafanzug – der zuerst meinem ältesten, dann meinem mittleren Bruder gehört hatte –, betrat ich erneut das Fernsehzimmer. Nun begann die vierte Phase. Ich umarmte meine Mutter, hauchte »Gute Nacht, Mama, entschuldige!«, und setzte mich auf ihren Schoß. Ich legte mein Kinn auf ihre Schulter, drehte den Kopf ein wenig und sah wieder in den Fernseher. Ich versuchte, die Lücke, die die Abendtoilette in die Handlung gerissen hatte, mit Logik zu füllen. Meine Brüder waren vertieft in den Film, aber auch sie waren Meister der geteilten Aufmerksamkeit. Ohne den Blick vom Geschehen abzuwenden, leicht gelangweilt, klärte mein mittlerer Bruder meine Mutter auf: »Weißt du, wie man das in der Pädagogik nennt, Mama? Schaukelerziehung! Ihr bringt den Hirni total durcheinander. Jetzt glotzt er schon wieder!« »Bitte, wirklich, bitte lass ihn in Ruhe, er geht ja gleich zu Bett!« »Ich hab doch gar nichts gesagt! Aber wenn der eine Dreiviertelstunde später als seine eigentliche Zeit zu Bett geht, dann darf ich auch länger aufbleiben. Ab heute geh ich nicht mehr um halb zehn ins Bett, sondern eine halbe Stunde später als der da!« Mir war das nur recht, dass sie sich unterhielten. Jede Minute war ein Gewinn. Mein Vater rief: »Wo bleibst du denn?« Meine Mutter hob mich von ihrem Schoß: »Gute Nacht, schlaf gut!« Ich ging zu meinem ältesten Bruder und sagte: »Gute Nacht!« Er sah mich liebevoll an und klopfte mir auf meine Locken: »Gute Nacht, Berserker, schlaf gut und träum was Schönes.« Auch mein anderer Bruder lächelte mir zu, lächelte mit diesen absurd großen Schneidezähnen: »Schlaf gut, Bruderherz. Hab dich lieb.«
Es war vorgekommen, dass ich zu diesem Zeitpunkt sogar noch in die fünfte Phase eintrat und vor Rührung einen Weinkrampf bekam, der dann todsicher bis zum Ende des Filmes währte, doch meistens gab ich da auf, besuchte kurz den Hund, ging
Weitere Kostenlose Bücher