Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)
rührte in meinem Kamillentee, trotz meines geheimen Plans stinksauer, hätte ihn am liebsten in die Runde geschüttet, beherrschte mich aber und gähnte. »Hast du denn Kopfweh?«, fragte meine Mutter. »Nein, es geht schon«, sagte ich. Ich wurde mutiger: »Ich muss heute unbedingt in die Schule, da wir die Übungen für die Englischarbeit bekommen!« »Ja, aber wenn es dir zu schlecht geht, bleib lieber hier und leg dich ins Bett!« »Wird bestimmt gleich besser, Mama.« Ich lächelte von einem zum anderen. Ein Lächeln, so lieb, so tapfer, dass nun auch meine Brüder anfingen, sich Sorgen zu machen. »Du Armer, du bist ja ganz käsig. Hoffentlich hast du nichts Ansteckendes.« »Ich muss mal aufs Klo.« Ich stand auf, hielt mich kurz an der Tischkante fest, atmete tief ein, bis der Bauchkrampf vorüber war, und schlurfte von dannen. Sobald ich im Flur war, rannte ich zum Medizinschrank, rückte den Stuhl davor und entwendete die Durchblutungscreme, schob die große Tube in die enge Tasche meiner Jeans. Ich zog mir meinen Anorak an, setzte mir den Schulranzen auf und ging, um mich zu verabschieden, ins Wohnzimmer. Mein Vater saß in seinem Sessel und las Zeitung. »Bis dann, Papa.« »Ich mach mir etwas Sorgen um dich, mein Lieber. Bist du sicher, dass du dich nicht hinlegen möchtest?« »Ach, ich versuch es einfach mal. Wenn es nicht geht, kann ich ja wieder nach Hause kommen.« Er sagte genau das, was ich mir erhofft hatte: »Nimm dir einen Schlüssel mit und ruf mich an. Du bist ja wirklich sehr tapfer. Was du wohl hast? Mir kommt das alles etwas rätselhaft vor.« Ich gab ihm einen Kuss auf seine Hand.
Mein Vater nahm hin und wieder eine Hautfalte auf seinem Handrücken zwischen Daumen und Zeigefinger und zwirbelte sie. »Schau dir das an«, sagte er dann stets ernüchtert, »das bleibt einfach so. Das dauert ewig, bis sich die Haut wieder glatt zieht. Gib mir mal deine Hand.« Wenn er dasselbe Experiment bei mir machte, schnellte meine Haut sofort wieder zurück.
Ich verabschiedete mich von meiner Mutter und machte mich auf den Weg in die Schule. In der ersten Stunde hatte ich Erdkunde. Ich war zu erregt, um irgendetwas mitzubekommen. Immer wieder rechnete ich die Zeiten durch. Erste Stunde bis zwanzig vor neun. Zweite Stunde bis fünf vor halb zehn. Dritte Stunde würde zu knapp werden. Meine kurz vor ihrer Pensionierung stehende Englisch-Lehrerin hatte, das kann man ohne Übertreibung sagen, eine Vollmeise. Sie fror immer fürchterlich, war stets in eine bodenlange Wolldecke gewickelt und trug eine Pudelmütze im Unterricht. Dabei war sie braun gebrannt. Ihr Kinn war von Falten zerfurcht, selbst ihr Mund sah aus wie eine lippenlose Kerbe, und wenn sie sprach, sah man nie ihre Zähne. Wie sie da vor der Klasse stand, sah sie aus wie ein erleuchteter Sherpa.
Nach ungefähr zehn Minuten zog ich die arg zerbeulte Tube aus meiner Hosentasche. Wie in allen Fächern musste ich auch in Englisch zur permanenten Kontrolle in der ersten Reihe sitzen. Während die Lehrerin etwas an die Tafel schrieb, beugte ich mich nach unten, so als würde ich etwas in meinem Schulranzen suchen, und tupfte mir die Durchblutungscreme ins Gesicht. Geschafft. Jetzt hieß es geduldig zu warten. Doch nichts geschah. Ich setzte mich aufrecht hin und hielt der Lehrerin mein hoffentlich von knallroten Pusteln übersätes Gesicht hin. Sie sah mich mehrmals an, war aber so in ihren auf Englisch gehaltenen Vortrag vertieft, dass sie meinen zu diesem Zeitpunkt bereits, da war ich mir sicher, das hatten meine Experimente mit Stoppuhr ergeben, besorgniserregenden Krankheitsverlauf nicht übersehen konnte. Hatte ich ihre Verrücktheit unterschätzt? Sollte mein Plan daran scheitern, dass diese bemützte in die Wolldecke eingewurstete Frau nur um sich selber kreiste? Ich setzte alles auf eine Karte. Ohne die geringste Ahnung zu haben, was die Frage war, meldete ich mich und zerschnipste die Luft vor gespieltem Wissensandrang. Sie sah mich überrascht an, ließ ihren Blick dann aber doch weiterschweifen, um jemand anderen zu wählen. Ich erhob mich ein wenig vom Stuhl und fuchtelte und schnipste, als wäre mein Arm eine knallende Peitsche. Es gelang mir, ihren Blick zu mir zurückzulenken. Genervt blaffte sie mich an: »What’s wrong with you?« Ich sah sie an, versuchte, ein großes Gesicht zu machen. »Do you want to answer the question? Was ist denn los mit dir?« Panik befiel mich. Hatte ich aus Versehen eine falsche Creme eingepackt?
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