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Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Titel: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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gefärbten Haare so schwarz. Um sie herum, durch die Luft, flatterten und segelten Papierstückchen. Blitzschnell, wie ein nach seiner Beute schnappendes Tier, griff sie sich immer neue Zeitungsseiten, schnellten ihre rot lackierten Fingernägel in den Stapel vor ihr, hackten hinein und krallten sich fest. Sie hielt das Papier kurz vor sich in die Höhe, zerriss es und warf die Fetzen mit aller Kraft in den Raum. Dann schlug sie nach den herabschwebenden Teilchen, prügelte auf sie ein. Mit der flachen Hand, mit dem Handrücken. Doch noch bevor alles zu Boden gesunken war, hatte sie sich bereits auf die nächste Zeitung gestürzt. Dabei brüllte sie: »Das Schwein soll endlich abhauen!« Immer wieder: »Das Schwein soll endlich abhauen!« Diese aus den Tiefen ihres Kummers herausbrechende Stimme war mir völlig unbekannt: rau und tief. Noch nie hatte ich mich vor meiner Mutter gefürchtet. Doch diese von unsichtbaren Furien gebeutelte Frau, dieses Zeitungen zerfetzende, brüllende Muttermonster jagte mir einen gehörigen Schrecken ein. Ihr vertrautes Mutter-Gesicht war kaum wiederzuerkennen. Ihre Zähne kamen mir groß vor und einzeln, und in ihren roten Schlund ging es tief hinab. Auch hatte ich sie sich noch nie so schnell bewegen gesehen. Ihre entfesselten Arme, der sich hin und her werfende Kopf, ihre ebenfalls lackierten Fußnägel, das alles konnte ich kaum mit den Augen verfolgen.
    Mein Vater stand etwas abseits, vor der großen Fensterfront, und sah zu uns hinüber. Er war das genaue Gegenteil meiner Mutter. Vollkommen erstarrt stand er da. Seine wenigen Haare kamen mir ungewöhnlich glatt nach hinten gestrichen vor. Sein Blick war hoch konzentriert. Er sah zwischen seinen drei Söhnen und seiner tobenden Frau hin und her. Da entdeckte ich etwas in seinem ganzen Wesen – es war nur ein Hauch, eine winzige Dosis –, aber es überraschte mich sehr. Ich sah, dass er zwar angespannt war, aber eben nicht nur. Ich sah, dass er auch, und da gibt es kein anderes Wort, »genervt« war. Dass er seine Frau so erlebte, quälte ihn nicht, nein, es ging ihm sichtlich auf die Nerven. Diese Diskrepanz zwischen der sich mit unerhörter Pein entladenden Mutter und dem schütteren, glatthaarigen, eiskalt dreinblickenden, aber letztlich eben doch nur genervten Vater war riesig. Er kam zu uns und sagte: »Ich glaube, es ist besser, wenn ihr rausgeht, ja?« Aber es sprach nicht der Vater zu uns, auch nicht der sehr seltene strenge Vater, es sprach der Arzt, der mit Wut und Eskalation bestens vertraut war, der sich mit Verrückten auskannte. Wenn ich durchdrehte, sprach er mit mir als Vater, wenn ich die dritte Sechs in Mathe nach Hause brachte, sogar als der strenge Vater, doch jetzt klang er wie ein kompetenter Arzt, wie einer, der diese Situation durch seine jahrelange Erfahrung lösen und für Ruhe und Ordnung sorgen werde.
    Wir rührten uns nicht, und mein Vater wiederholte seine Aufforderung an uns: »Ich möchte, dass ihr sofort in eure Zimmer geht!« Da meine Mutter so brüllte, musste er sehr laut sprechen. Das war eigenartig. Mein Vater sprach seinen Satz in die Verzweiflungspausen und Luftschnapper meiner Mutter hinein. Dadurch entstand ein verzahnter Mutter-Vater-Satz: »Das Schweiiiin – ich möchte, dass ihr – sooolllll eeeeeendlich – sofort in eure – abhauuuuen – Zimmer geht.« Mein ältester Bruder sah meinen Vater an, stellte sich, was sehr selten vorkam, ganz aufrecht hin, wurde dadurch sogar größer als er, wuchs ihm in diesem Moment regelrecht über den Kopf und rief: »Nein!« So ein »Nein« hatte ich von meinem ältesten Bruder noch nie gehört. An diesem Nein war nicht zu rütteln, dieses Nein war unumstößlich, und da es mir so vorkam, als hätte mein Bruder auch für mich gesprochen, als wäre dieses Nein ein für alle drei Brüder stehender Widerstand gegen die Vater-Aufforderung, blieb auch ich stehen. So als hätte dieses Nein meinem Vater zwei schallende Ohrfeigen gegeben, eine links, eine rechts, schoss ihm das Blut in die Wangen. »Macht, dass ihr rauskommt!«, blaffte er uns an und schob seinen dicken Bauch wie einen Rammbock auf uns zu. Ehe er uns erreicht hatte, betrat mein ältester Bruder das Wohnzimmer, ging zu meiner Mutter, die sich auf den Rücken geworfen hatte, um sich trat und hin und wieder das machte, was man in meinem Sportunterricht Brücke nannte. Aber sie machte Brücke ohne Hände, direkt auf dem Kopf. Der Hund kam ins Zimmer getrottet, sah meine Mutter, fing zu bellen

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