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Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Titel: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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brachte sie in das Fernsehzimmer, bereitete mir auf der Fernsehcouch ein gemütliches Lager. Ich zog die Vorhänge zu und schaltete den Fernseher an. Noch immer war ich mir nicht sicher, ob mein Plan aufgehen würde. So viel konnte noch geschehen. Stromausfall! Was hatte Björn gesagt? Viel Spaß? Was sollte das bedeuten? Viel Spaß wobei? Beim Gesundwerden? Warum hatten die Pusteln nur so kurz gehalten? Hatte ich vor Hektik zu wenig Salbe verwendet?
    Voller Erwartung lag ich mucksmäuschenstill auf meinem Krankenlager. Eine Ansagerin, die ich noch nie gesehen hatte, begrüßte mich und wünschte mir beim nun folgenden Spielfilm viel Vergnügen. Das Twenty-Century-Fox-Orchester schmetterte los. Zu einem Schlagzeugwirbel tönten Trompeten und steigerten sich bis zu einer das Paradies auf Erden verheißenden Glücksfanfare. Die Temperatur unter meiner Bettdecke, die Position meines Kopfs auf dem Daunenkissen, die Ausrichtung zum Fernseher, das alles war von seltener Vollkommenheit. Der Spielfilm begann. In den nächsten hundert Minuten versank ich in diesem Film, wie ich es noch nie zuvor erlebt hatte.
    Als meine Mutter gegen ein Uhr kam und ich schon wieder in mein Zimmer umgesiedelt war, setzte sie sich zu mir ans Bett. Am liebsten hätte ich ihr von dem Film erzählt. Ich musste meine Lippen zusammenpressen, so sehr wollten die Eindrücke von innen nach außen. Sie legte mir die Hand auf die Stirn: »Du hättest heute Morgen gleich zu Hause bleiben sollen. Ich glaub, du hast Fieber!«
    Kurz darauf kamen meine Brüder aus der Schule. Sie bedauerten mich, brachten mir gemeinsam das Mittagessen ans Bett, setzten sich zu mir und heiterten mich auf. Mein mittlerer Bruder stahl sich zwei Karotten von meinem Teller, steckte sie sich wie riesige Vampirzähne in seinen Mund und rief sabbernd: »Blut ist ein ganz besonderer Saft!« Es war eine Regel unserer Familie, dass man auch am Nachmittag das Haus nicht verlassen durfte, wenn man krankheitshalber nicht in der Schule gewesen war.
    Der Preis für den Fernsehmorgen würde, das war mir vollkommen klar, das war mir die Sache absolut wert, ein stinklangweiliger Nachmittag werden. Aber es kam anders: Sobald ich die Augen schloss und döste, stiegen die Bilder des Films in mir auf. Das zum ersten Mal entblößte Haar der noch nassen Nonne, die unter einem Laken direkt auf dem Boden einer Höhle liegt. Robert Mitchum, wie er bewegungslos in einer Speisekammer ausharrt, da er von Japanern überrascht wird, die die ganze Nacht ein merkwürdiges Brettspiel spielen. Es war mehr als nur ein bloßes Erinnern. Ich hatte eine Wiederholungstaste im Kopf und sah mir ganze Szenen immer wieder von vorne an.

Das Schwein soll endlich abhauen
    Gemeinsam mit meinen Brüdern spielte ich in unserem sogenannten Hobbykeller Tischtennis, als wir zwischen zwei Ballwechseln verzweifeltes Schreien hörten. Sofort war uns allen dreien klar, dass das kein Patientenschrei war, sondern hier in unserem Haus jemand in äußerste Not geraten war. Wir warfen unsere Schläger auf die Platte und rannten die Kellertreppe hinauf. Noch auf den ersten Stufen war unsere Neugierde größer als unsere Sorge gewesen, doch mit jeder weiteren Stufe begriffen wir, dass es eine uns wohlvertraute, wenn nicht sogar die vertrauteste Stimme überhaupt war, die da ihren Schmerz herausschrie. Meine Brüder nahmen springend mehrere Stufen, und ich versuchte, es ihnen gleichzutun. Wir erreichten den Flur, die Wohnzimmertür war geschlossen. Mein ältester Bruder drückte die Klinke und stieß die Tür auf. Das, was ich eingekeilt zwischen meinen tief atmenden Brüdern sah, lag jenseits meines Vorstellungsvermögens. Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass sich in diesem Zimmer, zwischen all den gediegenen Erbstücken: Bauernschrank und Biedermeier-Sekretär, Ohrensessel und Sofa, prall gefülltem Bücherregal und unter den Augen der Ahnengalerie, unserer soldatisch, akademisch, ärztlich Ehrfurcht gebietenden Erfolgs-Vorfahren, ein solches Drama ereignen könne. Wie konnte es sein, dass sich aus der Vertrautheit des Familienalltags ein solcher Sturm erhob? War das nicht meine Domäne: auszurasten, auszuflippen, auszuklinken? Doch gegen das, was ich jetzt sah, waren meine Zornattacken blutige Anfängernummern.
    Vor meinen Augen zeigte ein wahrer Wut-Großmeister seine Kunst: Meine Mutter saß auf dem braunen Teppichboden und zerfetzte Zeitungen. Noch nie hatte ich ihre geschminkten Lippen so rot gesehen, noch nie ihre

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