Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)
an und hüpfte wedelnd um sie herum. Mein mittlerer Bruder versuchte ihn zu schnappen, während ich weiterhin im Türrahmen stand. Meine Mutter warf sich zurück auf den Bauch, auf die Knie, kratzte die Papierschnitzel vom Teppichboden und warf sie wieder in die Höhe. Neben mir gab mein Vater ein Geräusch von sich – ich war ganz sicher der Einzige, der es hörte –, ein kümmerlicher Seufzer, der einen leisen, komplett enervierten Satz formte: »Oh nee … bitte nicht.« Dass meine Mutter Zeitungen zerriss, war wenigstens noch eine konkrete Handlung gewesen, dass sie sich herumwarf und zuckte, war zwar erschütternd für mich anzusehen, aber immerhin noch irgendwie vorstellbar, dass sie jetzt aber, obwohl gar keine Schnipsel mehr vor ihr lagen, immer intensiver am Teppich kratzte, kam mir sehr befremdlich vor.
Meinem mittleren Bruder war es gelungen, den Hund am Würgehalsband wegzuziehen. Mein ältester Bruder kniete sich zu meiner Mutter auf den Boden, legte ihr die Hand auf den Rücken. Mein anderer Bruder, der den keuchenden Hund zurückhielt, sah unglücklich zu mir herüber. Was macht sie da nur, dachte ich, was sucht sie denn nur? Verbissen scharrte sie weiter, bearbeitete den braunen Teppichboden, so als wolle sie sich direkt hier in unserem Wohnzimmer in den Boden hineinwühlen, sich ein Loch graben, einen Tunnel nach draußen.
Mittlerweile glühten nicht nur die Wangen meines Vaters, sondern auch seine Glatze hatte Feuer gefangen, der ganze Vaterkopf war in Brand geraten. Ob vor Scham, vor Zorn oder vor Unwillen, war mir unmöglich zu unterscheiden. Vor mir auf dem Boden sah ich meine Mutter, und wie gerne hätte ich so wie meine Brüder ein reines und tiefes Mitleid empfunden, so eine jede Zelle beglückende Empathie, aber auch ich verspürte einen Hauch von Genervtheit und dachte, »ja, jetzt ist es wirklich langsam mal genug«. Reißen, Schlagen und Schreien, na gut, aber minutenlang am Teppich kratzen kam mir überspannt vor und berührte mich peinlich. Als ihr zwei der langen, rot lackierten Nägel umbogen, rechtwinklig von den Fingerkuppen abstanden, brachte sie der Schmerz zur Besinnung. Sie ließ sich auf die Seite fallen und schluchzte und weinte. Ich sah meinen Vater an und tat etwas, das mich noch am selben Abend im Bett verwundern und noch Jahre später umtreiben sollte: Ich sah ihn an und zuckte ganz leicht mit den Schultern. Es war eine winzige, aber doch eindeutige Geste. Wie konnte ich nur? Ich schlug mich mit diesem Schulterzucken auf seine Seite und machte mich zu seinem Verbündeten. Er legte mir die Hand auf die Locken, nickte mir verständnisvoll zu, drehte meinen Kopf zur Seite und schob mich mit sanftem, aber nachhaltigem Druck hinaus in den Flur. Ich ließ es geschehen und rannte in mein Zimmer.
Später an diesem Nachmittag, meine Mutter hatte geduscht, und ein von sich selbst irritiertes Lächeln lag über ihrem erschöpften Gesicht, kam sie zu mir in mein Zimmer. Sie sah glücklich aus und sehr durcheinander. So als hätte der Verzweiflungsanfall auf dem Teppichboden ihr Gesicht gelockert, Krusten abgesprengt, kam mir ihre Mimik viel frischer und vielfältiger vor als in den letzten Wochen. »Ich glaube, jetzt wird alles besser, mein Lieber«, sagte sie mit rauer Stimme und weiter: »Ich wollte dich nicht erschrecken.« »Geht schon, Mama!« Ich stand von meinem Bett auf: »Ich will noch ein bisschen mit dem Hund rausgehen, ja?« »Klar. Soll ich mitkommen?« »Ähh, ja, wenn du willst, aber ich geh eh nicht lange.« »Ach so, gut, also wie du willst.« »Ich bin ja gleich wieder da.« Sie legte ihre Fingerkuppen zwischen die Augen und massierte die Stelle oberhalb des Nasenrückens. Keine andere ihrer Gesten war mir so vertraut wie diese. »Ich hab dich so lieb. Deine Brüder und du sind wirklich das Wunderbarste auf der Welt für mich. Ohne euch wäre ich verloren. Meine drei Söhne.« Sie sah mich an und weinte, ohne ein trauriges Gesicht zu machen. Träne für Träne rollte aus ihren heiteren, wie befreit strahlenden Augen. Ich fühlte mich zusehends unwohl. Das Gewicht dieser von der Mutter so federleicht dahingesagten großen Worte war mir unangenehm. »So, ich mach jetzt mal Abendbrot. Wenn du vom Spaziergang wieder da bist, essen wir!« »Wo ist denn Papa?«, fragte ich. »Ich glaube, der ist noch mal hoch in die Klinik, aber so genau weiß ich das nie. Soll ich dir vielleicht Milchreis machen?« Ich nickte, und sie ging hinaus.
Sommerfest
Alljährlich fand auf
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