Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)
dem anstaltseigenen Fußballplatz der Kinder- und Jugendpsychiatrie Hesterberg ein großes Sommerfest statt. Hierfür wurden von den betriebseigenen Tischlern unzählige Buden zusammengezimmert und von den betriebseigenen Malern bunt gestrichen und mit großen Buchstaben beschriftet. Aus der Psychiatrie-Gärtnerei kamen farbenfroh bepflanzte Kübel auf einem Gabelstapler angefahren und wurden, nach intensiv geführten Diskussionen, an ausgewählten Plätzen abgesenkt. Bänke wurden aufgestellt und mehrere geräumige Zelte aufgebaut. Das Festgelände war so groß, dass an drei zentralen Punkten Wegweiser in den Fußballrasen gerammt wurden, auf denen ausgesägte Holzpfeile die Richtungen wiesen. Dort stand zum Beispiel: »Bratwürstchen zehn Meter«, »Tanzzelt dreißig Meter« oder »Waffelbäckerei fünfundzwanzig Meter« und alljährlich auch Hinweise wie: »New York 6153 Kilometer« oder »Tromsö 1785 Kilometer«. Schon Tage vor dem Sommerfest wurde auf dem Platz gesägt und gewerkelt, und auf meinem Rückweg von der Schule sah ich mir diese regen Vorbereitungen immer gerne an.
Meinem Vater war es eine Herzensangelegenheit, auch die direkten Anwohner der Anstalt, ja alle Schleswiger auf diesem Fest willkommen zu heißen, um so die stets lauernden Ängste und Sorgen der Kleinstadtbewohner weiter abzubauen oder im besten Falle restlos zu zerstreuen. So wurden überall in der Stadt Plakate aufgehängt, die für das Sommerfest warben.
Es gab mehrere Attraktionen: einen in meiner Erinnerung mindestens fünfzig, wahrscheinlich aber doch eher höchstens zehn Meter hohen Baumstamm, den man an einem Seil gesichert erklimmen durfte und an dessen kahler Spitze ein Gong hing, den der Besteiger zum Zeichen seines Erfolges schlagen musste. Wenn dieser Gong erschallte, blickten alle Besucher des Festes zur Baumstammspitze hinauf, und der Erklimmer winkte stolz über das ganze Feld. Ich selbst habe es leider nie bis zur Spitze geschafft. Aber nicht aus Ungeschick, sondern weil mir schon nach wenigen Metern vor Angst die Knie zu schlottern begannen und ich mich zitternd ins Sicherungsseil plumpsen ließ. Der König des Kletterbaums war selbstverständlich Rudi, genannt Tarzan. Wie ein Äffchen mit schlechten Zähnen sauste er am Stamm empor und trug seine feuerrote Haarfackel ins luftige Ziel hinauf.
Eine andere Attraktion war die auf mehreren aneinandergestellten Tapeziertischen dargebotene, völlig überladene Kuchentafel. Nie wieder habe ich so viele Kuchen und Torten gesehen. Es waren bestimmt zwanzig Meter, dicht an dicht, ein Backwerk-Wall, der vom Marmorkuchen bis zur mehrstöckigen Eigenkreation alles aufzubieten hatte.
Das Besondere dieser Sommerfeste war die krude Mischung seiner Besucher. Stationäre Patienten wie Dauerinsassen, Anwohner, Ärzte, Pflegepersonal, Putzfrauen, Köchinnen, die schon erwähnten Schlosser, Gärtner und Maler mit ihren Familien, ja sogar durch die Plakate angelockte Touristen besuchten das Sommerfest. Meine Brüder und ich bekamen jedes Jahr einen Stand zugeteilt, an dem wir uns abwechseln durften. Einmal war es die Losbude, bei der man Dinge gewinnen konnte, die die Patienten in den Werkstätten hergestellt hatten. Es gab handwerklich perfekt gebaute Stühle, Nachttische und Regale, aber auch absonderliche Preise wie gestrickte Puppen, die etwas Monströses hatten, oder eigenartig planlos zusammengeschweißte Eisengebilde, die man kaum heben konnte. Der Hauptgewinn war eine aus Abertausenden Streichhölzern detailgenau nachgebildete Gorch Fock oder ein riesiger selbst geknüpfter Wandteppich mit den Sehenswürdigkeiten der Stadt. Da stand ich dann und rief: »Lose! Hier gibt’s tolle Gewinne. Drei Lose eine Mark!« Und wartete auf meine Brüder, die versprochen hatten, gleich wiederzukommen, sich aber nicht blicken ließen.
Zwei Jahre hintereinander war unser Stand ein dicker Balken, in den man Nägel hineinhämmern musste. Kleine Nägel, kleiner Hammer für die Kleinen, große Nägel, großer Hammer für die Großen. Mir war das nie ganz geheuer, wenn die Patienten direkt neben mir auf die Nagelköpfe eindroschen. Meine Mutter schob Dienst hinter der Kuchentheke, wedelte die Wespen vom Zuckerguss, schenkte schwungvoll aus gut gelaunter Höhe Kaffee ein und genoss demonstrativ die Geschäftigkeit.
Mein Vater schlenderte von Stand zu Stand und unterhielt sich mit den Besuchern, Angestellten und Patienten. Er aß hier eine Bratwurst und da ein Stück Kuchen, bekam da heiße Mandeln und
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