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Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Titel: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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dort ein Matjesbrötchen. Ich sah das gern, wie er gelassen und von allgemeiner Anerkennung getragen herumwanderte. Wenn ich ihn sah, lief ich zu ihm und er legte seinen Arm um mich, und dann musste ich auch schon wieder weiter.
    Manche Patienten hatten ihre eigenen Stände. Ein Junge, der Benno oder Hanno hieß, bewohnte ein Hüttchen und fertigte darin Porträts an. Es dauerte Stunden. Wer sich auf seinem Stuhl niederließ, für den war das Sommerfest gelaufen. Obwohl ich auch erlebt habe, dass die Porträtierten irgendwann genug hatten, einfach aufstanden und sich z.   B. durch einen Kollegen vertreten ließen. Benno oder Hanno war das vollkommen egal. Er zeichnete weiter. Diese Misch-Porträts habe ich leider nicht mehr vor Augen, aber ich stelle sie mir gerne vor – wie da in einem einzigen Bild im Laufe des Nachmittags die verschiedensten Gesichter ineinanderwuchsen. Traurigerweise starb Hanno oder Benno jung, und nicht nur ich vermisste seinen Stand.
    Auf einem dieser Sommerfeste machte ich beim Tanzzelt eine Entdeckung. Ich war hinter die Plastikplane gegangen, um mir die großen Stecker der Kabel anzusehen, mit denen die Musikanlage mit Strom versorgt wurde. Da sah ich einen enorm großen, blanken Hintern im Gebüsch. Die Pobacken zuckten zusammen und entspannten sich in rasendem Wechsel, und dabei klaffte und verschloss sich die Ritze und verbarg und entblößte einen Streifen pechschwarzer Haare. Ich hatte keine Ahnung, was ich da sah, dachte an einen epileptischen Anfall und trat näher heran. Solche Anfälle hatte ich schon zigfach miterlebt und kannte ihren Verlauf: Zuerst das unerwartete Niederstürzen eines Patienten, welches so vollkommen anders aussah als ein Umsinken oder Zusammensacken. Vielmehr war es mir stets so vorgekommen, als hätte sich plötzlich die Erdanziehung vertausendfacht, so als würde der Körper durch eine magnetische Kraft um- und heruntergerissen, machtvoll angesogen, dann der schreckliche Laut, mit dem die Luft aus der Lunge herausgequetscht wird, und schließlich das unkontrollierte Zucken, bei dem jeder Arm, jedes Bein ein katatonisches Eigenleben zu führen scheint und auf mich den Eindruck machte, als wollten die Extremitäten sich selbst herausreißen. Das hätte mich mit vier oder fünf, da ich meine ersten epileptischen Anfälle sah, nicht gewundert, wenn da plötzlich die Arme aus den Ärmeln, die Beine aus den Hosen herausgesprungen und davongezappelt wären.
    Doch als ich jetzt vor dem pulsierenden Hintern stand, sah ich nicht nur zwei Beine, sondern vier, nicht nur zwei Arme, sondern vier, aber nur einen Kopf. Was für ein Anfall war das? Ohne auch nur einen Moment länger das Rätsel lösen zu wollen – auch weil mich eine unbestimmte Ahnung, woher auch immer, anwehte, dass hier keine Hilfe nötig sein würde, dass ich hier eindeutig störte –, ging ich vorsichtig rückwärts davon.
    Gegen Abend wurde es in den Zelten voller und voller und die Sitzreihen und Tanzflächen füllten sich. Auffallend viele der Patienten liebten deutsche Schlager, konnten die Texte mitsingen und tanzten für ihr Leben gern. So unterschiedliche Stile sind wohl selten auf ein und derselben Tanzfläche durcheinandergewirbelt worden. Sogar meinen Vater habe ich dort sich glücklich um sich selbst drehen gesehen. Meine Brüder und ich saßen auf einer Bierbank und sahen ihm erstaunt dabei zu, wie er sich resolut die Hände in die fetten Hüften stemmte und von einem Bein aufs andere schunkelte. Wir schlugen uns, von heiterer Peinlichkeit geschüttelt, die Hände vors Gesicht oder pfiffen im Takt auf den Fingern. Jeder tanzte mit jedem. Ohne ihre Arzt- oder Schwesternkittel waren viele der Angestellten kaum wiederzuerkennen. Patientinnen tanzten mit Pflegern, die stellvertretende Direktorin mit dem Chef der Gärtnerei, der Kaufmännische Direktor mit einer bildhübschen Wäscherin, und meine Mutter mit einem sehr eleganten älteren Herrn, dem längst pensionierten früheren Direktor der Psychiatrie. Zwischen rotierenden Rollstühlen tanzten dänische Touristen, Schwerbehinderte wurden in ihren Gefährten auf die Tanzfläche geschoben, klatschten, wenn sie konnten, glücklich mit den Händen oder bewegten ein wenig den Kopf zur Musik.
    Um zehn ging das Sommerfest zu Ende und aus allen Buden strömten die Menschen im Tanzzelt zusammen. Der krönende Abschluss war der alljährliche Kassensturz. Alles eingenommene Geld aus zig Gläsern, Boxen und Kassen wurde in eine Wanne geschüttet und

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