Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)
Blieben die Durchblutungs-Pusteln aus? Jetzt oder nie. Ich tat etwas vollkommen Irrationales. Ich öffnete den Mund, streckte meine Zunge weit heraus und machte Ahhhh. Und in diesem Moment sah ich in ihrem Blick endlich, dass ihr etwas an mir seltsam vorkam. Sie trat ganz nah an meinen Tisch heran: »Sag mal, wie siehst du denn eigentlich aus? Du hast ja lauter rote Punkte im Gesicht.« Mein Tischnachbar, ein völlig verschlafener Einserschüler, sah mich angewidert an und rückte an die äußerste Kante seines Stuhles.
»Steh mal auf und komm hier ans Fenster!«, befahl mir die Lehrerin und zog sich die Mütze vom Kopf. Ich stellte mich wie ein Rekrut, Hände an der Hosennaht, Füße zusammen, ins hellere Licht. Es lief gut, jetzt nur nichts überstürzen. Alles würde genau so ablaufen, wie ich es geplant hatte. »Fühlst du dich gut? So etwas hab ich ja noch nie gesehen.« Ich machte meine Augen so groß ich konnte, ein alle Schlüsselreize des Mitleids zur Schau stellendes Unschuldslamm. »Ja, mir ist ein wenig komisch. Im Bauch. Mir ist ganz schön schlecht.« Das war immer eine sichere Nummer. Sich in den Klassenraum übergebende Schüler waren eine echte Bedrohung. »So, du gehst am besten sofort nach Hause. Ist da jemand?« »Ja sicher, meine Mutter ist da und mein Vater kommt zum Mittagessen. Der ist ja Arzt.« »Gut, dann geh mal los.« Sie sah über die Klasse hinweg, die mich, die gepunktete Sensation, angaffte. »Wer will ihn begleiten?« Das war einer der begehrtesten Aufgaben, die einem erteilt werden konnten. Kranke durften nicht alleine den Heimweg antreten.
Aber niemand meldete sich. Einem Aussätzigen wollte keiner zu nahe kommen, geschweige denn ihm Geleitschutz geben. Damit hatte ich nicht gerechnet. Das war eine echte Gefährdung für meinen Plan. Wenn sich hier niemand bereit erklärt, mich zu bringen, dachte ich, dann rufen die meinen Vater an und ich bin verloren. »Niemand?« Die Lehrerin zog ihre Wolldecke enger und überlegte. Alle meine Freunde stierten auf die Tischplatten. Da meldete sich Björn, meldete sich als Einziger. Oh nein, nicht der, dachte ich. Björn, der Sitzenbleiber, Björn, der Heimlichraucher, Björn, der Ladendieb.
Zu zweit verließen wir das Schulgebäude. Die ersten Minuten schwiegen wir, und ich sagte nichts anderes als »Hier um die Ecke« oder »Jetzt geradeaus«. Wir kamen an einem Kiosk vorbei, und Björn fragte mich: »Hast du Lust auf ein Negerkussbrötchen? Ich hab Geld!« Zögerlich sagte ich »Ich weiß nicht. Mir ist nicht so gut!«, dabei liebte ich Negerkussbrötchen. Er ging in den Laden und kam mit zwei riesigen sogenannten Baguette-Brötchen zurück. »Hier, für dich! Sonderanfertigung mit zwei Negerküssen! Komm, wir setzen uns da auf die Mauer!« Ich überlegte, ob ich noch gut in der Zeit war, aber 10 Uhr 23 sollte kein Problem sein. »Na gut. Vielen Dank!« Wir saßen auf einem Mäuerchen und aßen. Er sah mir wissend ins Gesicht: »Also Windpocken sind das nicht!« »Ja, aber mir geht’s echt nicht gut. Ich fühl mich total scheiße!« Er lachte, sagte: »Wetten, das ist morgen wieder besser!«, und biss beherzt in sein Brötchen.
Als wir vor unserer Haustür angekommen waren, sagte mir Björn, dass er aufs Klo müsse. Ich schloss auf, der Hund kam, schüttelte sich überrascht, und ich zeigte Björn den Weg zu unserer Toilette. Ich wollte ihn so schnell wie möglich loswerden. Er kam den Flur entlang: »Hast du nicht gesagt, deine Mutter wäre da?« »Die kommt bestimmt gleich wieder. Vielleicht ist sie kurz einkaufen!« »Ich darf dich doch nicht alleine lassen!« »Doch, doch, das geht schon. Ich leg mich jetzt mal hin. Wird bestimmt bald besser.« »Ich glaub, das ist sogar schon besser! Die roten Flecken sind alle schon wieder weg.« Ich sah zum Flurspiegel hinüber und entdeckte einen kerngesunden Jungen mit prächtiger Gesichtsfarbe, der dreinblickte wie ein dem Tode Geweihter. Ich drehte mich weg. Sah seine nagelneuen Turnschuhe auf mich zukommen, öffnete die Haustür: »Danke, dass du mich gebracht hast!« Er griff sich in die Tasche seiner Jacke und fingerte eine Zigarette heraus. Eine einzelne Zigarette direkt aus der Jackentasche: »Klar, kein Problem. Viel Spaß, bis morgen!«
Ich schlug die Tür hinter ihm ins Schloss und wartete, bis sich seine durch das dicke Milchglas vernebelte Gestalt entfernte. Endlich allein! Ich rannte in die Küche. 10 Uhr 10. Aus meinem Kinderzimmer holte ich mir meine Bettdecke und das Kissen und
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