Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)
gezählt. Mein Vater erklomm das Podest und rief die Gesamtsumme durch das Mikrofon des im Hintergrund schon mit dem Abbau beschäftigten Alleinunterhalters. Die Summe klang stets astronomisch für mich – 3435 Mark und 50 Pfennige – und wurde mit einem Jubelschrei aller Anwesenden bedacht. Von dem Geld wurden Tischtennisplatten für die Sporthalle angeschafft, eine Patientenbibliothek eingerichtet und in einem besonders ertragreichen Jahr sogar ein Filmprojektor in Hamburg bestellt. Mit diesem Projektor durfte ich an einem meiner Geburtstage in der verdunkelten Turnhalle auf einer großen Leinwand zusammen mit meinen Freunden einen Film sehen, »Tarzan«. Einer meiner Mitschüler sprang während des Films plötzlich auf, rannte zu einem der an der Wand befestigten Kletterseile und schwang als schreiender Schatten durch das Bild.
Natürlich gab es auch Jahre, in denen dieses Fest im norddeutschen Regen zu ersaufen drohte und der Wind übellaunig an den Buden rüttelte. Durch eine an Aberwitz grenzende Zuversicht ließen sich die Besucher und Veranstalter den Spaß nicht verderben. Ich habe resolute Krankenschwestern im strömenden Regen sagen hören: »Da hinten wird’s schon wieder heller«, obwohl der Himmel schwarzgrau war, so weit man blicken konnte. Der Rasen auf dem Fußballplatz weichte auf, es wehte so stark, dass es einem die Zuckerwatte vom Stängel blies und die Lose aus der Hand gerissen wurden. Alles egal. Wir feierten unser Sommerfest, auch wenn vor der Nordsee die Halligen evakuiert wurden und man die kletternden Patienten auf dem Stammwipfel vor lauter Regen vom Boden aus kaum erkennen konnte. Den Gong hörte man, und das war der Beweis: Es war Sommer.
Marlene
Über viele Ecken wurde meinem Vater ein Mädchen ans fachlich kompetente Herz gelegt. Etwas Schlimmes war passiert, ihre Eltern wussten nicht mehr weiter und suchten meinen Vater auf. Wer diese Eltern waren und was mit ihrer Tochter los war, durfte und wollte er nicht sagen. Er verweigerte die Nachfrage aber mit einem bedeutungsschwangeren Blick, der eindeutig andeutete – klingt komisch, aber trifft es genau: die eindeutige Andeutung war eine Spezialität meines Vaters –, dass er es nicht sagen dürfe, da es sich um ein verdammt heißes Eisen handelte. Das Mädchen konnte unter gar keinen Umständen in der Psychiatrie untergebracht werden, da sie, so hieß es, zu sensibel für eine solche Einrichtung sei. Die Einlieferung in eines der überfüllten Gebäude sei ihr nicht zuzumuten, eine ambulante Behandlung jedoch nicht ausreichend.
Meine Brüder und ich waren gespannt, was da auf uns zukommen würde. Das Gästezimmerbett wurde bezogen, und ich fuhr mit meiner Mutter zu Divi, dem großen Einkaufsmarkt, um die von den geheimnisvollen, im Hintergrund agierenden Eltern angegebenen Lebensmittel zu kaufen. Es war ein Einkaufszettel der Extravaganz. Mit jedem Artikel, den meine Mutter staunend aus dem Regal nahm, wuchs meine Neugierde auf dieses Mädchen. »Wie heißt sie eigentlich?«, fragte ich meine Mutter. »Marlene.« »Und warum kommt die zu uns?« Meine Mutter stapelte vierzig BiFi-Mini-Salamis in den Einkaufswagen. »Ich weiß es auch nicht genau. Papa darf das wirklich nicht sagen.« »Aber was ist, wenn die voll einen an der Klatsche hat?« »Ja, ich bin auch gespannt.« »Was wollen wir denn mit den ganzen BiFis?« »Steht hier auf dem Zettel. Ich hoffe, das stimmt – vierzig BiFis?« »Wie lange bleibt die denn?«, wollte ich wissen. »Erst mal für vier Wochen. Jetzt brauchen wir noch zwölf Dosen Thunfisch, Gummibärchen, Orangenmarmelade und zehn Gläser Rote Bete. Seltsam, seltsam.« »Wie alt ist sie?« »Vierzehn. Ein Jahr älter als du.«
Als ich am nächsten Tag von der Schule nach Hause kam, saß Marlene bei meiner Mutter am Küchentisch und machte nichts. Meine Mutter stellte mich vor, sie sah mich an, und nichts geschah. Sie war toll angezogen: ein rosafarbenes Kleid mit einer hellroten Strickweste darüber, Strumpfhose mit blassen Blümchen, lackierte Fingernägel, eine Halskette mit Kreuz und Perlenohrringe. Aber es sah aus, als würden sich diese herrlichen Kleidungsstücke nur kurz auf ihr ausruhen, Pause machen, um dann zur eigentlichen Besitzerin weiterzuziehen. Ich schenkte mir ein Glas Milch ein und setzte mich zu ihr. Marlene machte nichts. Sie schien auch nicht müde zu sein oder traurig. Ihre Hände lagen vor ihr auf dem Tisch wie fleischfarbene Geschenke. Es hätte mich nicht gewundert, wenn ihr die
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