Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)
Perlenohrringe wie überreife Pflaumen von den Ohrläppchen gefallen wären, ohne dass sie das im Geringsten gekümmert hätte. Ihre Ausdruckslosigkeit irritierte mich. Zugleich war es aber unmöglich, sie zu ignorieren. So wie sie dasaß und nichts tat, war sie überpräsent und raumgreifend.
In den nächsten Tagen erfüllte Marlene unser Haus mit ihrer allumfassenden Passivität. Ihre Lethargie war hochgradig ansteckend. Es kam vor, dass wir alle plötzlich wie versteinert vor uns hin starrten oder sich meine Mutter im Flur, auf halbem Weg zum Bad, sterbensmüde an die Wand lehnte. Ihr Nichtstun sponn uns ein wie eine Spinne ein betäubtes Insekt. Wenn wir mit Marlene vor dem Fernseher saßen, fielen uns allen schon um acht Uhr die Augen zu. Unserem Hund kam das sehr entgegen. Er schien in Marlene endlich den Ruhepol gefunden zu haben, der sein tagelanges Hinter-dem-Sessel-Pennen rechtfertigte. Wenn Mädchen und Hund endlich zu einem Spaziergang aufbrachen, zu dem mein Vater sie in einer filigranen Mischung aus Ermutigung und Aufforderung überredet hatte, sah es aus, als würde gleich die ganze Welt einschlafen und die Dächer von den Häusern rutschen, so langsam waren sie. Mein Vater hatte schon gelernt, nicht zu sagen: »Ihr geht jetzt mal ’ne halbe Stunde raus«, sondern: »Ihr geht einmal bis zum Waldrand«. »Halbe Stunde« hieß für die beiden bis zum Gartentörchen.
Bat man Marlene bei Tisch um die Butter, war der Toast schon kalt, wenn sie sie einem gab. Ging Marlene aufs Klo, war es für wenigstens eine Stunde verschlossen, und wir alle mussten in den Keller auf die Gästetoilette. Ich schlich mich an und legte mein Ohr an die Badezimmertür. Drinnen tropfte es stetig, gleichmäßig, mit Pausen wie von einem Stalaktiten. Mehrmals vergaß sie zu spülen oder tat es absichtlich nicht. Es roch streng, und die kleine Wasserpfütze in der Kloschüssel war blutrot. Ich erschrak und holte meine Mutter. Sie beruhigte mich und erklärte mir, das käme von all der Roten Bete, die Marlene ständig in sich hineinschaufelte.
Und trotz allem passierte etwas, das mir selbst am allerbefremdlichsten vorkam: Ich mochte sie. Sie gefiel mir. Sie gefiel mir sogar sehr. Ich suchte ihre Nähe. Während wir unser Mittagessen verspeisten, kaute Marlene an ihren BiFis herum oder aß geziert Thunfisch direkt aus der Dose. So eine verlangsamte Vornehmheit hatte ich noch nie gesehen. Ihre Bewegungen hatten etwas zelebriert Anmutiges und waren zugleich von einer bleiernen Hoffnungslosigkeit durchdrungen, als ginge jeder Regung eine zwar matt, aber unter großer Anstrengung gefällte Entscheidung voraus. So saß sie da und brauchte pro Mini-Salami eine halbe Stunde. Ich sah die Küchenuhr hinter ihr an der Wand. Marlene kaute und kaute und blinzelte so gut wie nie. Währenddessen verlangsamte sich der Sekundenzeiger mehr und mehr, kam kaum noch den Berg von der Neun zur Zehn hoch und sah schließlich so aus, als würde er seiner tickenden Tätigkeit endgültig überdrüssig und jeden Augenblick tot vom Ziffernblatt fallen. Dieses Mädchen ist mächtiger als die Zeit, dachte ich und sah erstaunt, wie jedes anfänglich mit Schwung begonnene Gespräch binnen Sekunden verebbte, zum Erliegen kam.
Meine Mutter trat schnellen Schritts auf sie zu und rief überfallartig: »So, Marlene, heute fahren wir an den Langsee baden!« Marlene sah sie an und tat nichts. »Pack mal bitte deine Badesachen ein. In zehn Minuten geht es los!« Marlene sah sie an und tat nichts. »Es ist so herrliches Wetter heute.« Da hörte ich schon, wie die Worte meiner Mutter sich verlangsamten. »Da wäre es … doch schön … mal … schwimmen zu gehen.« Doch Marlene sah sie an und tat nichts. Ihr Blick bremste alles aus, und die eigene Euphorie, die eigene Unternehmungslust kam einem plötzlich überflüssig, ja sinnlos vor. Marlenes Blick, ihre Körperspannung verwandelte alle auf sie einstürmenden Lebensgeister in kränkliche Gespenster. Meine Mutter stand vor ihr, und mit schläfriger Stimme kapitulierte sie: »Du kannst es dir ja noch mal … überlegen. Ach, eigentlich hab ich auch nicht so recht Lust.« Marlene sah sie nur an und tat nichts.
Ich konnte von ihrer merkwürdigen Art nicht genug bekommen, beobachtete sie wann immer ich in ihrer Nähe war.
Meinem mittleren Bruder entging das nicht: »He, der Wasserkopf hat sich in die Schnarcheule verknallt.« Dabei war ich ja das genaue Gegenteil von ihr: der, der nicht still sitzen konnte, der, der in
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