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Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Titel: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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der ersten Klasse wieder nach Hause geschickt worden war, weil ich, der Zappelphilipp mit Rechtschreibschwäche, gar nicht begriff, wozu die Tische und Bänke im Klassenraum aufgestellt worden waren.
    Marlene machte mich minimal ruhiger und ich sie minimal unruhiger. Während ich in der Schule war, nahm sie unter der Obhut meines Vaters an verschiedenen Sitzungen und Therapieeinheiten teil. Am Nachmittag war sie dann bei uns.
    Marlene bürstete sich oft die Haare. Setzte sich vor die große Glasschiebetür in die Sonne und kämmte sich. Immer von oben nach unten. Dabei aß sie Gummibärchen. Aber sie lutschte sie, lutschte ewig an einem einzigen Bärchen herum. Ich tat so, als hätte ich im Wohnzimmer etwas zu tun, setzte mich auf das Sofa, las in der Wüste und beobachtete sie. Ich war neugierig, warum sie bei uns war, und schließlich fragte ich sie. »Bist du krank?« Sie war schön und abwesend, wandte den Kopf und sah mich an. Ihre Treibsand-Augen lullten mich ein. Manchmal kam es mir so vor, als würde sie mich und meine Familie restlos verachten, alles verachten, aber jetzt sah sie mich einfach nur an. Ihr von unangestrengter Neutralität erfüllter Blick verunsicherte mich, da ich ihn so gar nicht zu deuten vermochte. Dieser Blick schien nichts zu erwarten. Weder von ihrem Gegenüber noch von sich selbst.
    Ich wiederholte meine Frage: »Bist du krank?« Sie bewegte ihre Nasenspitze einen Millimeter nach rechts, wieder zurück und einen Millimeter nach links. War das ein Kopfschütteln? »Warum bist du denn bei uns?« »Selbstmord.« »Wie bitte?« »Hab versucht, mich umzubringen.« »Warum denn?« »Weiß ich eigentlich gar nicht. Deshalb bin ich ja hier. Um das rauszufinden.« »Was hast du denn gemacht?« »Tabletten gegessen.« »Was denn für Tabletten?« »Keine Ahnung. Einfach alle, die im Schrank waren.« »Und dann?« »Eingeschlafen.« »Aha … und dann?« »Im Krankenhaus wieder aufgewacht. Magen ausgepumpt.« »Warum hast du das denn gemacht?« »Hm …«, sie überlegte, »keine Ahnung. Frag mich in einer Woche noch mal. Vielleicht ist mir bis dahin was eingefallen.«
    Nach und nach gerieten auch meine Brüder in den elegischen Sog Marlenes und warfen sich mächtig ins Zeug, um sie zu beeindrucken. Mein ältester Bruder führte seine Fische vor und legte Schallplatten auf. Es grenzte an Zauberei: Nie zuvor hatte die Musik so schleppend geklungen. Während jemand seinen Finger auf den Plattenteller zu drücken schien, sanken die Guppys, Skalare und Buntbarsche betäubt auf den algigen Kies. Mein mittlerer Bruder hielt Vorträge, verhedderte sich und landete unter den ausdruckslosen Blicken Marlenes im thematischen Nirwana. Wenn ich jetzt abends im Bett lag und draußen die Patienten brüllten, dachte ich an Marlene. Ihre Pullover waren aus feinster Wolle, vielleicht Angora, und die rosafarbenen Wollfasern bildeten einen haarigen Flaum. Ich stellte mir vor, ihren Rücken zu streicheln, vielleicht sogar ihre flauschigen Brüste, und, das kannte ich gar nicht, konnte nicht einschlafen.
    Sie blieb acht Wochen, dann kehrte sie zu ihren Eltern zurück.
    Ein paar Jahre nachdem sie bei uns gewesen war, fragte mich mein Vater in einem Freibad beim Umziehen: »Erinnerst du dich noch an Marlene? Sie hat mal bei uns gewohnt.« »Ja klar. Die war so unglaublich langsam. Was ist mit ihr?« Mein Vater griff seine Unterhose, die vor ihm im Gras lag, mit den Zehen, warf sie in die Höhe, fing sie, und das, was er sagte, passte so gar nicht zu dieser Akrobatikeinlage eines dicken Mannes: »Sie hat sich gestern umgebracht.« »Echt?« »Ja.« Er sah unglücklich zu mir herüber: »Ich geh mal schwimmen.« Wir gingen nebeneinander zu den Duschen, waren gleich groß. Ich fragte ihn: »Warum denn?« »Keine Ahnung. Das ist manchmal so. Das war ihr vierter Versuch. Sie wusste selber nicht warum, aber sie wollte einfach sterben. Schon damals, als sie bei uns war.« Es war noch nie vorgekommen, dass er so offen mit mir über eine seiner Patientinnen sprach. »Schrecklich, oder?«, fuhr er fort, »wenn man so gar nicht am Leben hängt. Auch die Eltern waren nicht der Grund. Das sind freundliche Leute. Sechs Jahre lang hab ich Marlene behandelt. Wir haben uns gut verstanden. Ich mochte die richtig gerne. Das war ein tolles Mädchen.« Seine Stimme wurde brüchig: »Ich dachte bis zuletzt, vielleicht schaffen wir das.«
    Wir erreichten die Duschen. Die Sonne stand tief. Mein Vater drückte den Knopf, und ein Wunder geschah:

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