Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)
zerzaust, und er trug keine Schuhe. Der Hund hob den Kopf, seine Nackenhaare senkten sich, und beschwingt trabte er auf die Tür zu. Meine Mutter ließ meinen Vater herein und lachte: »Herzlich willkommen zu Hause!« Mein Vater ging ohne ein Wort zu sagen an uns vorbei ins Badezimmer und drehte den Schlüssel um. »So, ihr geht jetzt mal alle wieder schlafen!«, forderte meine Mutter uns auf. Doch da hörten wir schon wieder schreckliche Laute, die klangen, als würde ein sehr saftiges Tier zerfleischt. Wieder rannten wir zur großen Wohnzimmerscheibe. Unser Hund beutelte und schüttelte die blaue Pluderhose hin und her, sprang mit den Pfoten auf sie und riss sie in Streifen. Meine Mutter, die hinter mir stand, an deren Bauch ich mich angelehnt hatte, legte die Arme um meine Brüder links und rechts von mir und sagte: »Mein Gott, da hat er aber Glück, dass er da nicht mehr drinsteckt.«
Die Betten
Das Schlafzimmer meiner Eltern ganz am Ende des Flurs machte auf mich oft einen traurigen Eindruck. Tagsüber schien es keinen Schimmer davon zu haben, wofür es da war. Sehr neutral, gut durchlüftet lag es da und wartete auf seine beiden Bewohner, von deren Nächten ich keine Ahnung hatte. Zuneigung atmete es kaum. So, wie man in manchen Museen hinter einer dicken Kordel steht und in eine akkurat rekonstruierte Bauernstube aus dem siebzehnten Jahrhundert sieht, so stand ich oft in der Tür des Elternschlafzimmers und betrachtete es.
Mein Vater ging immer früh schlafen. Eigenartig früh. An Wochenenden blieb er gerne den ganzen Tag im Bett, hatte den Aschenbecher auf dem Bettdeckenhügel seines Bauches stehen, rauchte Kette und las.
Die Betten meiner Eltern waren immer in Bewegung. Waren mein Vater und meine Mutter einander wohlgesinnt, standen ihre Ehebetten nebeneinander in der Mitte des Zimmers. Nur getrennt durch den handbreiten Spalt zwischen den Matratzen, so nah es ging. Die Nachttische standen außen.
Die nächste Bettenkonstellation barg keine große Veränderung, bedeutete aber viel, denn damit fing es an. Die Betten wurden ein kleines Stück auseinandergezogen. Nicht viel. Sie standen immer noch in der Mitte des Raumes, waren aber durch einen Spalt getrennt. Die Nachttische außen.
Dann rückten die Betten nach und nach auseinander, immer weiter an die Wände. Da, wo früher die Betten standen, in der Mitte des Raumes, war jetzt eine freie Fläche. Und da, wo früher die seitlichen Wege zu den Betten waren, standen die Nachttische. Als Nächstes wanderten die Nachttische nach innen und die Betten bündig an die Wand. Sie waren jetzt so weit auseinander, wie es ging. Auf den nach innen gewanderten Nachttischen stapelten sich Bücher und Zeitschriften zu blickdichten Mauern. Immerhin war eine gewisse Symmetrie noch gewahrt. Wenn dann aber eines der Betten über Eck an die Rückwand wanderte, den Blick endgültig abgewandt, waren alle Raumvarianten zur Distanzgewinnung ausgeschöpft. Dieser Zustand hielt nie sehr lange und schließlich zog mein Vater ins Gästezimmer in den Keller. In die »Gruft«, wie wir es nannten. Meine Mutter schlief nun alleine in den wieder in die Mitte des Raumes rückplatzierten Ehebetten. Dies tat sie so lange, bis mein Vater vom Keller genug hatte und wieder ins Schlafzimmer einzog. Und dann ging alles wieder von vorne los. Brauchte ich ein untrügliches Zeichen für den Zuneigungsgrad meiner Eltern, ging ich in ihr Schlafzimmer und las aus der Bettenkonstellation wie auf einem Thermometer die Temperatur ihrer Nächte ab.
Wenn meine Mutter zu unglücklich wurde, mein Vater sie zu sehr gequält hatte, sie sich zu sehr hatte quälen lassen, verschwand sie für eine Zeit nach München, einmal sogar für drei Monate, wohnte bei meinen Großeltern und ließ sich helfen. Wir waren dann allein mit meinem Vater. Er kochte. Eingeweide konnte er nicht. Es gab immer und immer wieder Erbsen aus der Dose und Minutenkoteletts. Wenn meine Mutter dann wiederkam, war sie fast übertrieben heiter und lachte so viel, dass meine Brüder und ich uns fragende Blicke zuwarfen.
Einmal, als sie glaubte, allein zu sein, hörte ich sie sprechen. Sie saß ganz still in unserem großen Ohrensessel, die Hände auf den Knien, die Handflächen nach oben weisend, und redete. Ich stand in der halb geöffneten Tür und hörte ihr zu. Lange. Es klang wie ein Gebet: »Ich kann in der Badewanne liegen und es schön finden. Ich kann ein Mittagessen so kochen, dass es meinen Kindern schmeckt. Ich kann mich schön
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