Warte, bis du schlaefst
der Augenblick, an dem ich beschloss, die Anrede »Onkel« fallen zu lassen und ihn einfach Elliott zu nennen.
Nach unser beider Ansicht war es nunmehr unvermeidlich, dass ich wegen Mack zu einem Verhör vorgeladen würde und dass wir einen Anwalt einschalten mussten. »Ich werde nicht zulassen, dass Mack in den Zeitungen vorverurteilt wird«, sagte Elliott. »Ich werde mich umschauen und den besten engagieren, den ich finde.«
Wir waren auch beide der Meinung, dass wir Mom über die neueste Entwicklung informieren mussten. »Es wird nicht lange dauern, bis irgendein Reporter auf die Idee kommt, den Fall Leesey Andrews mit Macks Verschwinden in Verbindung zu bringen, vor allem wegen dieser Gemeinsamkeit mit dem Muttertag«, meinte Elliott. »Noch schlimmer, ich könnte mir sogar vorstellen, dass die Polizei gegenüber den Medien absichtlich etwas durchsickern lässt. Es darf nicht so aussehen, als ob sich deine Mutter vor ihnen versteckt.«
Elliott rief sie an und legte ihr auf sanfte Weise nahe, die Reise abzubrechen und nach Hause zu fliegen. Als Mom dann am Mittwochabend ankam, war genau das, was Elliott vorausgesagt hatte, eingetroffen. Die Medien, wie Bluthunde, die eine frische Fährte witterten, hatten tatsächlich die Fälle der drei anderen verschwundenen jungen Frauen aufgegriffen und gemeldet, dass Mack und seine Freunde vom College im The Scene gewesen waren an dem Abend, an dem Emily Valley spurlos verschwand. Die Tatsache, dass sowohl bei Macks regelmäßigen Anrufen als auch bei Leesey Andrews’ Nachricht an ihren Vater der Termin des Muttertags auftauchte, ging natürlich ebenfalls durch alle Schlagzeilen.
Mom, von Elliott fest mit einem Arm umschlungen, musste sich ihren Weg durch die Kameras und Mikrofone bahnen, als sie in Sutton Place ankamen. Ihre Begrüßung fiel genau so aus, wie ich erwartet hatte. Mit tiefen Schatten unter den vom Weinen verquollenen Augen sah man ihr zum ersten Mal ihre zweiundsechzig Jahre an. Sie blickte mich an und sagte: »Carolyn, es war ausgemacht, dass wir Mack sein eigenes Leben führen lassen wollten. Aber du konntest es ja nicht lassen und musstest dich unbedingt einmischen, und jetzt wird mein Sohn gejagt wie ein Krimineller. Elliott hat sich freundlicherweise erboten, mich in seiner Wohnung aufzunehmen. Meine Koffer sind noch in seinem Wagen, und ich habe die Absicht, sein Angebot anzunehmen. In der Zwischenzeit überlasse ich es dir, dich mit dem ganzen Rummel vor der Haustür zu befassen und dich bei den Nachbarn für den Einbruch in ihre Privatsphäre zu entschuldigen. Doch bevor ich gehe, will ich noch dieses Band hören.«
Ich holte wortlos den Kassettenrekorder, dann setzten wir uns in die Küche, und ich spielte ihr das Band vor. Die Stimme von Mack, der mit seiner Schauspiellehrerin scherzte: »Klingt das nicht wie Laurence Olivier oder Tom Hanks?« – dann der dramatische Wechsel der Stimmung, als er die Zeilen von Shakespeare zu rezitieren begann.
Als ich das Gerät abschaltete, war Moms Gesicht bleich vor Kummer. »Irgendetwas Furchtbares muss da gewesen sein«, flüsterte sie. »Warum ist er damit nicht zu mir gekommen? Nichts hätte so schlimm sein können, als dass ich ihm nicht geholfen hätte.« Sie streckte die Hand aus. »Gib mir diese Kassette, Carolyn«, sagte sie.
»Mom, das geht nicht«, antwortete ich. »Es würde mich nicht wundern, wenn sie bald von der Staatsanwaltschaft
beschlagnahmt wird. Du glaubst, die Aufnahme beweist, dass Mack in Schwierigkeiten steckte. Es gäbe aber auch die Erklärung, dass er einfach nur einen Text im Auftrag seiner Lehrerin vorbereitet hat. Elliott und ich treffen uns morgen mit einem Anwalt. Ich muss dieses Band dabeihaben, damit wir es ihm vorspielen können.«
Ohne ein weiteres Wort wandte sich meine Mutter von mir ab. Elliott flüsterte: »Ich ruf dich später an«, bevor er ihr zur Haustür folgte. Als sie gegangen waren, schaltete ich das Band wieder ein: »… als Ausgestoßner weinend mich beklage, umsonst mein Flehn zum tauben Himmel gellt …«
Ob Mack nun lediglich eine Rolle interpretiert oder der Text auch einen Bezug zu seiner eigenen seelischen Verfassung hatte – diese Worte, so dachte ich in einer Mischung aus Schmerz und Bitterkeit, passten jetzt auch sehr gut zu meiner gegenwärtigen Situation.
Ein paar Minuten später klingelte das Telefon. Als ich den Hörer aufnahm und mich meldete, wurde am anderen Ende der Leitung aufgelegt.
35
Er konnte nicht genug kriegen von den
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