Warten auf den Monsun
die Tücher.
Sie ging enttäuscht wieder nach oben. Daß er sie abwies, verunsicherte sie mehr, als sie sich eingestehen wollte. Sie zog sich aus und drehte den Duschhahn auf. Sie stieg in die Badewanne und sah in dem hohen, abgeblätterten Spiegel an der Tür eine alte, magere Frau. Eine gescheiterte Frau. Eine unglückliche Frau. Sie griff zu dem Wasserkrug aus Porzellan, dem Erbstück ihrer Mutter, die ihn ihr ganzes kurzes Leben benutzt hatte, dem Krug, mit dem Sita sie und ihren Bruder gewaschen hatte, in den sie Blumen gestellt hatte, wenn sie traurig war, dem Krug, den kein Trödelhändler hatte kaufen wollen, und pfefferte ihn auf den Spiegel. Es sah so aus, als würde ihr Spiegelbild zur Seite ausweichen. Der Krug zerschellte an der Wand. Sie kümmerte sich nicht um die Scherben, kehrte dem Spiegel den Rücken zu und ließ das Wasser über ihren Körper strömen. Warum hatte sie zerstört, was ihr so lieb und teuer war? Warum hatte sie sich nicht beherrscht, so wie sie sich immer beherrschte? Sie, die sich nie gehenließ, die nie Anstoß erregte, die immer das tat, was von ihr erwartet wurde, die sich an die Regeln hielt, wie ungerecht sie auch sein mochten, die nie rebelliert hatte – was um Himmels willen war mit ihr los? Wütend seifte sie Haare und Gesicht ein, als auf einmal das Wasser versiegte. Sie drehte am Hahn. Sie konnte ihn noch so weit aufdrehen, es kam kein Tropfen mehr, sie hörte nur ein Blubbern, das durch kilometerlange leere Rohre zu kommen schien. Die Seife brannte ihr in den Augen. Wie konnte sie es nur vergessen! Hema hatte es ihr gesagt, als sie wieder eine Mahlzeit unangerührt zurückgeschickt hatte. Die Frau von Alok Nath, dem Goldschmied, hatte es ihr gesagt, als sie anrief, um zu fragen, ob der neue Stoff angekommen sei. Der Mann von der Bank hatte es ihr gesagt, als er heute morgen mit einem Brief vor der Tür stand, den sie zu den anderen in die Schublage gelegt hatte. Der Wasserspeicher auf dem Hügel war leer, und sie hatte vergessen, die nötige Vorsorge zu treffen.
1944
Birma
Gebrüll ertönt, und die schlafenden Männer sind plötzlich von Japanern in zerrissenen Uniformen, mit hohlen Augen und grimmigen Blicken, die Gewehre im Anschlag, umringt. Peter Harris ist eher verwundert als bestürzt. Er war sich sicher, daß sie weit von der Front entfernt waren. Er hatte sogar das Gefühl, daß sie bald wieder in der bewohnten Welt sein würden, nachdem sie wochenlang einsam durch den Dschungel geirrt waren.
Sie müssen sich hinknien und die Hände hinterm Kopf halten. Ist es soweit, muß er jetzt sterben? Trifft ihn gleich eine Kugel in den Hinterkopf? Wird er es spüren oder geht es dafür zu schnell? In den letzten Tagen hatte er geglaubt, daß sie entkommen waren. Daß sie nicht alle sterben würden. Sie hatten, obwohl sie nichts anderes zu essen fanden als ein paar Beeren und Wurzeln, viel gelacht, und jeden Abend hatte einer von ihnen eine Geschichte erzählt. Manchmal kam er sich vor wie in einem Ferienlager für Jungs, in einer zu langen und zu schwierigen Pfadfinder-Übung, nur die langen Bärte und der immer grimmiger werdende Hunger mit der dazugehörigen Lethargie störte diesen Traum.
Das Gebrüll ist verstummt. Seine Knie schmerzen, und am liebsten würde er die Arme sinken lassen. Der Blick des Feindes, der ihn mit erhobenem Gewehr aus einiger Entfernung beobachtet, nimmt ihm und seinen Kameraden jedoch den Mut, und er behält die Hände oben. Er hofft, daß Felix, der stellvertretende Bataillonskommandant, der ihm alles über seine unglückliche Kindheit erzählt hat, auch durchhält. Peter hat jeden Abend die Verletzung an seinem Knie behandelt, während er ihm seine Geschichte erzählte. Was als kleiner Schnitt begonnen hatte, wurde ein Geschwür, ein pochender Abszeß und dann eine offene Wunde. Peter weiß, daß das Knie und das Bein vom Knie abwärts nicht die geringste Chance hat, wenn er nicht bald richtige Medikamente bekommt. Der Offizier, der große Hochachtung vor Peters ärztlichen Qualitäten hat, stöhnt. Ein Befehl ist zu hören. Peter bekommt einen harten Stoß in den Rücken und fällt nach vorn.
»Wir sollen uns hinstellen«, hört er Felix sagen. »Sofort hinstellen.«
Er rappelt sich hoch. Am Himmel erkennt er, daß es in einer Stunde dunkel sein wird. Einer der Japaner, ein kleiner Mann mit hinten offenen Schlappen, zeigt auf Felix’ Stiefel und blafft etwas. Es kann nur bedeuten, daß er seine Stiefel ausziehen
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